GESCHICHTE DER ANTIKE

Das Mittelmeer schließt die es umgebenden Landschaften zu einem gemeinsamen hellen, warmen und weltoffenen Raum zusammen. Heiße und trockene Sommer wechseln mit winterlichen Regenzeiten, während derer in Höhenlagen auch Schnee fallen kann.

Griechenland liegt am südlichen Ende der Balkan-Halbinsel. Dem asiatischen Kontinente vorgelagert, bildet es die Pforte zu Europa. Von Norden nach Südosten verlaufen wilde, vielfach aufgegliederte Kalkgebirgsketten. Sie tauchen unter ins Aegäische Meer, um dann als unzählige Inseln immer wieder ans Licht zu treten. In weiten und gelegentlich tiefen Buchten dringt seinerseits das Meer ins Festland ein und trennt einzelne Provinzen von anderen ab. Wir haben es mit einem reich gegliederten, zerklüfteten, zersplitterten Gebiet zu tun, welches kleineren Menschengemeinschaften Lebensräume bot, die Bildung größerer Staaten aber behinderte.

Schroffe Höhen, schwer zugängliche Täler, weite Meeresbuchten und einige ebene Fruchtgelände liegen eng nebeneinander. Im Altertum waren die Gebirge noch be-waldet, die Täler wasserbelebt. Dem eher kargen Boden mußte sein Ertrag in harter Arbeit abgerungen werden. Hirten zogen mit ihrem Kleinvieh von Weide zu Weide. Seßhafte Bauern betrieben Rinderzucht und bauten Getreide, Wein und Oliven an. Weit verbreitet war der Fischfang.

Die bedeutendsten Siedlungen lagen an der Meeresküste. Die Seefahrt überflügelte den Landverkehr. Vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. beherrschten die Griechen die Schifffahrt im Mittelmeerraum .




Die Einwanderung der Ionier und Aiolier (Achaier) (um 2000 v. Chr.)

Während in dämmriger Vorzeit der Raum der Aegäis von verschiedenen Urvölkern besiedelt war, lebten die indogermanischen Hellenen vermutlich in Mitteleuropa. Eine andere Theorie sucht ihren Ursprung im Kaukasus. Die Sage berichtet von ihrem gemeinsamen Stammvater Hellen, dem Sohn des Deukalion, des griechischen Noah. Hellen soll die Begründer der großen griechischen Stämme gezeugt haben: Xuthos, von dessen Söhnen Achaios und Ion die Achaier und Ionier abstammten; Aiolos, den Ahnherrn der Aiolier; Doros, den Urahnen der Dorier.

Seit Beginn des zweiten Jahrtausends, bis gegen 1000 v. Chr., erschütterten an- und abschwellende Völkerwanderungen die Balkan-Halbinsel. In ihrem Verlaufe drangen verschiedene Hellenenstämme nach Süden vor. In einer ersten Welle traten um 2000 v. Chr. Ionier und Aiolier auf. Die ersteren setzten sich am Golf von Aegina fest; um ihr Siedlungsgebiet herum ließen sich die letzteren nieder. Die Eroberer, zusammenfassend auch Achaier genannt, unterwarfen die Urbevölkerung und bildeten kleine Herrschaftsbereiche. Ihre Überlegenheit erhob sie zu Gebietern über die Unterschicht der Besiegten. Zur Sicherung ihrer Macht errichteten sie Zwingburgen und Stadtfestungen. Darunter sind besonders Mykenä und Tiryns in der Landschaft Argolis berühmt geworden. Weitere Burgen gab es in Theben, auf dem Hügel der späteren Athener Akropolis und an anderen Orten.

Von Einwanderungen ganz anderer Art berichten die griechischen Sagen. Danach sollen Halbgötter, aus der Verbindung von Göttern und Menschen hervorgegangen, als Völkerführer und -lehrer aufgetreten sein. Mit hochentwickelten Fähigkeiten begabt, gingen sie in menschlichen Leibern über die Erde, gründeten Städte und stifteten Kulturen. Pelops, nach dem der Peloponnes benannt ist, wanderte aus Kleinasien ein. Als Gründer von Theben galt Kadmos, der aus Phönikien gekommen sein soll; die Griechen schrieben ihm die Erfindung nützlicher Gerätschaften für den Ackerbau und den Krieg zu, besonders aber auch die Überlieferung der Buchstabenschrift, deren Zeichen er aus Phönikien mitgebracht haben soll. Aus Ägypten sollten Danaos nach Argos und Kekrops nach Athen eingewandert sein.

Die Burg und Stadt Mykenä, der Sage nach eine Gründung des Zeus-Sohnes Perseus, hat der mykenischen Kultur den Namen gegeben, welche um 1600 v. Chr. auf dem Festland wirksam wurde. Dabei handelte es sich um männlich-herbe, auf Krieg und Jagd ausgerichtete Lebensweisen und Einrichtungen, die aber unter den Einfluß der hochentwickelten, weiblich-anmutigen Kultur Kretas gerieten.

Auf der Insel Kreta lebte ein nichtindogermanisches Urvolk, das schon vor dem Auftreten der Griechen in regem Austausch mit Ägypten und Kleinasien gestanden hatte. Die kretische Kultur hatte im 4. Jahrtausend v. Chr. begonnen; sie hielt sich während zweier Jahrtausende. Die ersten Hellenen blickten staunend auf die reiche und mächtige Insel mit ihrer starken Flotte, den prächtigen Städten und verfeinerten Sitten. Ein Glanz ging von ihr aus, dem sie sich nicht verschließen konnten; er floß ins Griechentum ein und formte es mit. Wann genau die neuen Herren des Festlands mit den Kretern in Kontakt kamen, konnte noch nicht geklärt werden. Fest steht, daß um 1400 v. Chr. hellenische Eroberer die Insel unterwarfen und ihre Städte und Königsschlösser zerstörten. Kreta verlor seine Selbständigkeit und ging in dem aufstrebenden griechischen Kulturkreis auf.

Um 1200 v. Chr. war Mykenä Sitz des Königs Agamemnon. Er einte die Griechenstämme zum Kampf gegen die kleinasiatische Stadt Troja. Auf Schiffen zog man zum Hellespont, der schmalen Scheide zwischen Europa und Asien, und errang den Sieg. Damit «schlug … die Geburtsstunde des europäischen Geistes: durch die Überwindung Trojas schüttelte der Genius der Griechen, der Erstling Europas, die Bevormundung durch die alten asiatischen Kulturen ab.» «Eines der gewaltigsten Symbole für das Ende des Zeitalters der Theokratien und den Aufgang des Zeitalters der auf ihre menschlichen Kräfte gestellten Persönlichkeit ist dieser trojanische Krieg, der Untergang Trojas und der morgenfrische Aufstieg des Griechentums, die Verselbständigung Griechenlands und damit Europas gegenüber den magischen Priesterkulturen Asiens, die Ablösung der Priesterherrschaft durch die weltliche, die Königsherrschaft, die mit dem Griechentum beginnt.» Die Emanzipation von Asien fiel zeitlich zusammen mit Israels Auszug aus Ägypten.

Die Hellenen der Frühzeit lebten auf geologisch unruhigem Boden. Immer wieder gab es Erdbeben und Überschwemmungen, besonders auch in der Zeit des trojanischen Krieges. Naturgewalten und Verluste im Kampf schwächten die mykenische Kultur. Nur 100 Jahre nach dem Sieg über Troja fiel sie den Umwälzungen zum Opfer, welche der Einbruch der Dorier, des dritten großen Griechenstammes, auslöste. Troja fiel sie den Umwälzungen zum Opfer, welche der Einbruch der Dorier, des dritten großen Griechenstammes, auslöste.

Um 1100 v. Chr. drangen die Dorier unter Führung der Herakliden, der Nachkommen ihres Stammeshelden Herakles, aus den nordwestgriechischen Gebirgsgegenden nach Süden vor. Im Gegensatz zu den Achaiern kannten sie die Eisengewinnung und -verarbeitung und waren entsprechend überlegen bewaffnet. Das grosse, kriegerisch kräftige, aber noch kulturlose Bauernvolk überflutete Westgriechenland und besetzte den grössten Teil des Peloponnes. Mykenä fiel. Bald setzten die Eroberer über das Meer und nahmen die südlichen Kykladen, Kreta und Rhodos ein. Nur wenige Landschaften vermochten sich freizuhalten. Attika und die ihm vorgelagerten Inseln blieben ionisch, Boiotien und Arkadien aiolisch und arkadisch.

Der letzte Griechenstamm, der die Bühne der Geschichte betrat, bildete neu den herrschenden Adel und dorisierte die unterworfenen Gebiete rücksichtslos. Viele der alten Bewohner wanderten aus. Die zurückblieben, wurden entrechtet und zu Staats-sklaven gemacht.

Unter dem Druck der Eindringlinge expandierten Ionier und Aiolier über das Meer. Die Ionier schufen sich eine Inselbrücke zum mittleren Abschnitt der kleinasiatischen Küste hinüber. Die Aiolier besetzten die Nordwestecke Kleinasiens und die Insel Lesbos. Mehr und mehr wurden die Inseln und die westlichen Gestade Kleinasiens hellenisiert, und die Aegäis verband als griechisches Meer die einzelnen Siedlungsräume miteinander.

Mit dem Auftreten der Dorier endete in Griechenland die Bronze- und setzte die Eisenzeit ein.

Die dorische Wanderung und ihre Auswirkungen vollzogen sich langsam. Die kriegerischen Auseinandersetzungen führten zu geistigen Befruchtungen. Schliesslich kamen die Völkerbewegungen im Aegäisraum zur Ruhe. Die drei wichtigsten Stammesverbände, die Ionier, Aiolier und Dorier, entwickelten in drei verschiedenen Nuancen die ureigene und selbstbewusste Kultur der Hellenen. Man fühlte sich der barbarisch-fremden Umwelt weit überlegen und setzte sich von ihr ab.

Die Ionier bildeten im Laufe der Zeit vor allem das Denken aus. Die Aiolier pflegten eher das fühlende Welterleben. Die Dorier trugen stählerne Willenskräfte zum Ganzen bei.

Alle drei Stämme sprachen griechische Dialekte. Das Dorische bevorzugte die alten, dunklen Vokale A, O und U, harte und rauhe Konsonanten, altertümliche Ausdrucksweisen. Das Aiolische brachte in reicher Vokalik differenzierte Gefühls-stimmungen zum Ausdruck. Das Ionische hellte die dunklen Vokale auf zu Ae, E, I, Ue und ging von den «Aspirata» (K-H, T-H, P-H) zu den «Spiranten» (Ch, Th – wie im Englischen, Ph – wie F gesprochen) über. In der Landschaft Attika entfaltete sich auf der Grundlage des Ionischen das Attische, die vierte und vollkommenste Erscheinungsform des Griechischen. Dorische und aiolische Sprechweisen wurden aufgenommen, mit dem Ionischen in harmonischen Ausgleich gebracht und alle drei Elemente zur klassischen Schönheit gesteigert.

Neben den drei vorherrschenden gab es noch weitere Stämme und Mundarten. Sie waren mit den grossen Stammesverbänden verwandt und können als Untergruppen angesehen werden. Unklar ist der Ausdruck «Achaier»; er tritt sowohl als Bezeichnung für einen Einzelstamm als auch als älterer Name für alle frühen Hellenen auf.

Auf die dorische Wanderung folgte eine äusserlich eher ruhige Zeit, die aber reich an innerer Entwicklung war. Vieles von dem, was später als griechische Kultur erblühen sollte, wurde angelegt. Wegweisend wirkten besonders die betriebsamen, lebens-frohen, jedem Fortschritt aufgeschlossenen Ionier.

Bauernleben

Die frühen Griechen lebten im wesentlichen von Ackerbau und Viehzucht. Man pflanzte Getreide, Wein, Gemüse, Obst und die Olive. Das Olivenöl wurde in der Küche, zur Körperpflege und zur Beleuchtung verwendet. Handel bedeutete Warenaustausch; das Geld kannte man noch nicht.

Das Familienleben spielte sich in dem typisch indogermanischen, rechteckigen Lehmziegelfachwerk-Haus mit hölzernem Giebeldach und einem aus den vorgezogenen Seitenwänden gebildeten Vorraum ab. Im Erdgeschoss wohnten und schliefen rund um einen Herd herum die Männer; das Obergeschoss gehörte den Frauen.

Üblich war die Einehe. Der Bräutigam kaufte die Braut dem Schwiegervater mit reichen Geschenken ab. Die Ehefrau führte das Haus, indem sie die Arbeit der Haussklaven plante, anordnete und überwachte. Sie spann und webte und kümmerte sich um die Erziehung der Kinder. Der Hausherr erfüllte neben seinen beruflichen und kriegsdienstlichen Pflichten auch hauspriesterliche Aufgaben. Vor jeder Mahlzeit opferte man auf dem häuslichen Herd Speise und Wein. Man hielt die Verbindung mit den Göttern für unerlässlich für das Gedeihen der Gemeinschaft.

Zu den Festen des häuslichen Lebens gehörten die Gastmähler, die der Hausherr für Freunde und Gäste gab. Die Männer assen und tranken – mit Wasser verdünnten – Wein, vergnügten sich an Gesprächen und Spielen und liessen sich von Jünglingen mit Musik- und Tanzdarbietungen verwöhnen. Die Frauen hatten diese Symposien (Trinkgelage) zu organisieren, waren aber von der Teilnahme ausgeschlossen.

Der Adel

Die Bewohner Griechenlands waren in verschiedene Gesellschaftsschichten einge-bunden. Eine handfest-vordergründige Gliederung war durch die Einwanderungen der Hellenenstämme entstanden: Die jeweils siegreichen Eroberer bildeten die Herren-, die unterworfene Bevölkerung die Unterschicht. Die «Herrschaft der Besten» heisst auf griechisch Aristokratie. Das deutsche Wort Adelsherrschaft deutet darauf hin, dass nicht bloss körperliche Stärke und Geschicklichkeit, sondern auch eine edle Seele ausschlaggebend waren für die Zugehörigkeit zur Oberschicht.

Die frühen Griechen führten Rang und Würde unter den Menschen auf Götterwillen zurück. Als Uradel waren die Helden, die Könige der Vorzeit anerkannt, welche der Sage nach oft Ehen zwischen Göttern und Menschen entstammten. Von Himmlischen in irdische Machtpositionen erhoben, adelten sodann die halbgöttlichen Herrscher ihre Gefolgsleute, die man – ihrem Kriegshandwerk Rechnung tragend als Ritterstand bezeichnen kann. Mit Autorität führte die Schicht des höheren Ur- und des niederen Hilfsadels die gewöhnlichen Menschen.

Die Götter leiteten ihre Elite zur Veredelung der Seele und des Blutes, der Vererbung, an. Tugenden wie Mut und Tapferkeit wurden gepflegt und über Vererbung und strenge Verhaltensregeln an Kinder und Kindeskinder weitergereicht. Das verfeinerte Blut suchte man rein zu erhalten durch standesgemässe Heiraten oder gar Inzucht; man liess sich möglichst nur mit seinesgleichen näher ein. Die Zugehörigkeit zur Adelsschicht und die damit verbundenen Vorrechte und Pflichten gingen durch Blut und Erziehung und später auch rechtlich auf die Nachkommen über und konnten von diesen, dank hervorragenden Fähigkeiten, oft lange Zeit behauptet werden.

Als Beispiel für eine griechische Adelsfamilie seien die Alkmeoniden erwähnt. Ihr Stammbaum geht bis auf den uralten Himmelsgott Uranos zurück. Auf Iapetos, Prometheus und Deukalion folgten der Griechenstammvater Hellen und dessen Kinder und Kindeskinder. Darunter gelangten der Hellseher und König Melampus und das Prophetengeschlecht seiner Nachkommen zu grosser Bedeutung. Aus den Melampiden ging Alkmeon hervor, von dem sich die Alkmeoniden herleiteten, welche in der Politik eine mächtige Rolle spielten.

Die Anfänge der Polis

Nach dem Einbruch der Dorier siedelte man zunächst in offenen Bauerndörfern. Das Ackerland gehörte der Gemeinde und wurde zur Bearbeitung gerecht an die einzelnen Familien verliehen. Mit der Zeit ging der Pachtgrund in Privateigentum über. Der Adel gründete seine Macht auf den Besitz möglichst grosser Grundstücke und Viehbestände und die Blüte seiner landwirtschaftlichen Betriebe. Selbst Könige rühmten sich der Geschicklichkeit, den Pflug zu führen.

Nach und nach nahm die Bevölkerung zu, wuchsen die Siedlungen. Eng benachbarte Dörfer schlossen sich zu Städten zusammen und entwickelten sich zu Hauptorten umliegender Landschaften. Die ausgeprägte natürliche Gliederung Griechenlands begünstigte die Bildung vieler Kleinstaaten. Jeder Klein- oder Stadtstaat, griechisch Polis genannt, verteidigte nach aussen seine Selbständigkeit und pflegte nach innen ein starkes Gemeinschaftsgefühl. – Wie die einzelne Familie, so beobachtete auch der Stadtstaat seine religiösen Kulte. Er unterhielt im Regierungs- und Verwaltungsgebäude (Prytaneion) auf einem Altar eine ewige Flamme. Der örtliche politische Führer amtete zugleich als Oberpriester der Staatsreligion.

An der Spitze der Polis stand ursprünglich ein König. Er stammte aus gottent-sprossenem Geschlecht und vererbte die Königswürde in seiner Familie weiter. Er amtete gleichzeitig als höchster Priester, Richter, Leiter der Gemeinde-Angelegenheiten und oberster Heerführer. Wie alle Angehörigen der Adelsschicht besass er ein Bauerngut. Bei verschiedenen Gelegenheiten, wie z. B. bei einer Rechtsprechung, bekam er Geschenke. Im Krieg erhielt er einen grösseren Anteil der Beute.

Der König regierte nicht willkürlich, sondern beteiligte die höheren Gesellschafts-schichten an wichtigen Entscheidungen. Manche Frage legte er dem Rat der Adels-häupter und der Volksversammlung, der Tagung aller stimmberechtigten Vollbürger, zur Beratung vor. Der König war nicht gebunden, aber in der Regel nahm er Rücksicht auf die Volksmeinung.

Als Politai, stimmberechtigte Vollbürger der Polis, waren alle freien Bewohner des Stadtstaates anerkannt, welche durch Geburt oder Gemeindebeschluss alten Familien-verbänden angehörten. Die Familienverbände pflegten die religiösen Kulte und besorgten den Rechtsschutz ihrer Mitglieder mittels Rache und Blutsühne. Da es noch keine öffentliche Schutzmacht, keine Polizei gab, trug man auch in Friedenszeiten ständig Waffen: Helm, Schild und Panzer aus Stierhaut, oft mit Metall beschlagen, Lanzen und Schwerter aus Holz und Metall.

Eine mittlere Gesellschaftsschicht bildeten Periöken und Metöken. Erstere waren frei, grundeigentumsberechtigt und kriegsdienstpflichtig, besassen aber kein Bürgerrecht. Letztere waren Fremde, meist Händler, die zu bestimmten Abgaben und gewöhnlich auch zum Heeresdienst verpflichtet waren.

Völlig rechtlos waren die Sklaven. Sie konnten nicht einmal über sich selbst verfügen, sondern gehörten wie Tiere den Herren, die sie auf dem Markte gekauft hatten. Die meisten Sklaven hatten ihre Freiheit durch Kriegsgefangenschaft oder Raub verloren. (Seeraub galt als ein durchaus nicht entehrendes Gewerbe.) Auch durch Abstammung wurde man Sklave. Erlaubte ein Herr einem Sklaven zu heiraten, so waren dessen Kinder von vornherein Eigentum des Herrn. Der Herr überlegte sich gut, ob er sich Sklavenkinder leisten konnte, denn er hatte für ihre Ernährung aufzukommen. Die Sklaven fanden Verwendung als Hausdiener, Lehrer für die Kinder, Handwerker, Bauernknechte, Bergwerksarbeiter, Schiffsruderer usw. Ihre Lebensbedingungen waren je nach Eigentümer und zugewiesener Aufgabe unterschiedlich; im allgemeinen jedoch wurden sie verhältnismässig menschlich behandelt, nicht selten standen sie sogar in vertrautem Verhältnis zur Herrschaft. Die Hellenen sahen die Sklaverei als eine natürliche Gegebenheit an. «Man muss sich nun klarmachen, dass die für die Menschheit so wichtige und fruchtbare griechische Kultur nicht denkbar ist ohne die Einrichtung der Sklaverei. Die Sklaven waren es, die durch ihrer Hände Arbeit die wirtschaftliche und materielle Grundlage schufen, auf der sich das Leben der Herrenbevölkerung als der alleinigen Trägerin aller höheren Kultur aufbaute. Die edelsten griechischen Geister … sahen die Sklaverei als etwas Notwendiges und Berechtigtes an.» Aristoteles beispielsweise beschreibt in seiner «Politik» den Sklaven als ein beseeltes Besitzstück, das in seiner Vernunftentwicklung nicht weit genug fortgeschritten sei, dessen höchste Leistung im Gebrauch seiner Leibeskräfte bestehe und das deshalb von der Natur dazu veranlagt sei, den höherentwickelten Freien zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse zu verhelfen.

<—- Im Lauf der Zeit wuchs überall die Macht des Adels. Schliesslich räumte das Königtum bei den meisten Stämmen der Aristokratie den Platz.

Gewerbe in Athen

Mit dem Uebergang zur Geldwirtschaft im 6 . Jahrhundert nahmen Handel und Gewerbe in den Städten zu. Verarmte Bauern zogen in die Stadt, um dort in Handel und Gewerbe ihr Brot zu verdienen. Mit der wachsenden Arbeitsteilung im Gewerbe nahm die Zahl der handwerklichen Berufe zuFür die tägliche Versorgung der Bevölkerung in der wachsenden Stadt brauchte man z B. Bäcker, Müller, Schuster, Schmiede, Färber. Die Töpfer fertigten neben den billigen Massenwaren die hochwertigen, im ganzen Mittelmeerraum begehrten schwarz- und rotfigurigen Tonwaren: Schalen, Vasen, Krüge . Berühmt waren die athenischen Baumeister , Bildhauer und Bronzegießer. In den langen Kriegen brauchte man Waffenschmiede Schildmacher, Hersteller von bronzenen Hoplitenrüstungen. Mit dem Bau der Handelsflotte und Kriegsflotte vermehrte sich die Zahl der Schiffswerften. Für jedes der 300 Kriegsschiffe im 5. Jahrhundert benötigte man 170 Ruderer. Für die Versorgung der Stadt brauchte Athen allein 100-200 Schiffsladungen Getreide im Jahr. In vielen kleineren und mittleren Werkstätten wurde bereits für den Markt und für die Ausfuhr produziert. Ein Handwerker oder Händler  beschäftigte im Durchschnitt bis zu 5 Tagelöhner oder Sklaven. Viele arbeiteten auch nur mit einem Sklaven.

In den Bergwerken des Lauriongebirges waren Hunderte von Staatssklaven beim Abbau des Silbers eingesetzt. Steuern zahlten nur die Fremden (Metöken), die athenischen Bürger waren steuerfrei. Der Staat lebte u. a. von den Hafenzöllen und von den Tributen des Seebundes.

Die Halbinsel Piräus hatte einen großen Handelshafen und zwei Kriegshafen mit rund 200 Schiffsschuppen. Es waren Werften fur 400 Schiffe vorhanden, dazu Lagerhäuser für Weizen und andere Waren, Zollgebäude, Wechselstuben, Märkte, Warenhallen, in denen die importierten Waren ausgestellt und verkauft wurden. An Zoll wurden 2% des Warenwertes erhoben. Das brachte dem Staat jährlich 30’000 Talente Einnahmen (1 Talent = 6000 Drachmen). Ein großer Teil der Bewohner des Piräus waren eingewanderte Fremde, sogenannte Metöken, denen das volle Bürger-recht noch nach Generationen verwehrt wurde.

Handel und Landbesitz

Athen exportierte Waren nach Frankreich, Spanien, Etrurien, Phönikien, Inner-kleinasien, Ägypten, auf den Balkan und in das Schwarzmeergebiet, und zwar vor allem Tonwaren, Wein und Öl. Die Waren wurden in großen Tonkrügen verfrachtet, auch Honig, Salzfisch, Pökelfleisch, Drogen und Salben. Einfuhren kamen aus Indien, Makedonien, Thrakien (Gold), Spanien (Silber) und von den britischen Inseln (Zinn). Getreide kam aus den Randgebieten des Schwarzen Meeres (zeitweise 50 % des Bedarfs), aus Ägypten, Sizilien, Unteritalien, Euböa. Schiffsladungen im Wert von 12000 Drachmen sind bezeugt. Ein Schiff konnte bis zu 3000 Weinkrüge laden.

Handelsschiffe faßten zwischen 30 t und 100 t, durchschnittlich 70 t. Es waren überwiegend Segelschiffe, z. T. zusätzlich mit Rudern ausgestattet. Sie fuhren, von Kriegsschiffen bewacht, in Geleitzügen. Im Jahre 405 v. Chr. kaperte der spartanische Admiral Lysander einen athenischen Geleitzug von 170 Schiffen, der mit Weizen aus dem Schwarzmeergebiet beladen war. Die Reisezeit von Piräus nach Ephesus betrug 2.5 Tage, nach Byzanz 4.5 Tage, nach Rhodos 3.5, nach Ägypten 7.5 Tage. Von Kerkyra nach Syrakus benötigte man 9, von Karthago nach Gibraltar 7 Tage.

Als Frachtgebühr war für 26 kg 1 Obolus zu entrichten; dazu kam 2 % Zoll. Die Fahrt einer Familie mit Gepäck von Ägypten zum Piräus, allerdings ohne Kabine und Verpflegung, kostete 2 Drachmen.

Der Landbesitz war von sehr unterschiedlicher Grösse. Das Landgut des Phainippos umfaßte 390 ha, nämlich 86 ha Ackerland, 10 ha Weinberge 294 ha mit Bäumen nnd Sträuchern. Er beschäftigte 7 Sklaven und hielt 6 Esel und 20 Ochsengespanne. Der Gewinn entsprach einer Verzinsung von 9,5 % . Die Tempelschätze von Athen wurden zu einem Zinsfuss von 10 % verliehen. Etwa 60 % der athenischen Bevölkerung besassen Landgütcben zwischen 1 und 2 ha (heute gelten in der EG 12 ha und weniger als umrentabel). 329 v. Chr. betrug die Jahresproduktion an Weizen 4,5 dz je ha (in Deutschland 1838 12 dz, 1980 50 dz) im Durchschnitt. Als wohlhabend galt, wer 1 Talent (= 6000 Drachmen) Kapital hatte. Ein Tagelöhner verdiente etwa 1 Drachme = 6 Obolen pro Tag. 1 Talent = 60 Minen; 1 Mine = 100 Drachmen; 1 Drachme = 6 Obolen.

Verfeinerte Techniken und Arbeitsteilung

Wie die Kleider, so wurden auch andere gewerbliche Erzeugnisse ursprünglich im Hause hergestellt. Nach und nach entwickelten sich verfeinerte Techniken und die Arbeitsteilung. Gelernte Zimmerleute für den Haus- und den Schiffs-bau, Maurer, Wagenbauer, Tischler, Lederarbeiter, Schmiede, Goldschmiede, Töpfer, Seefahrer, Händler, Ärzte, Herolde, Sänger und Seher boten ihre Dienste an. Alle diese Berufe galten indessen nicht als vornehm; besonders die von Hand verrichteten Arbeiten waren verachtet. Die herrschende Gesellschaftsschicht, jeder noch so kleine Grundbesitzer, fühlte sich über sie erhaben.

Geographische Kenntnisse und Verkehr

Die Griechen stellten sich die Erde als eine grosse Scheibe vor, in deren Mitte Griechenland und das Aegäische Meer lagen. Letzteres beschrieb man als Bin-nenmeer, rings von einem Inselkranz umgeben, und jenseits davon dehnte sich das weite Aussenmeer. Rund um das Aussenmeer herum wohnten fremde Völker: im Süden u. a. Äthiopen und Pygmäen, im äussersten Westen die Kimmerier und im hohen Norden die sagenhaften Hyperboreer, die weder Krieg noch Krankheit kannten. Ihre fernsten Länder wurden umfasst vom Okeanosstrom, der am Rande der Erde kreiste. Aus seinen Fluten erhob sich am Morgen die Sonne, und am Abend versank sie wieder darin. Auch alle Gestirne badeten sich in seinen Wassern.

<—- Die Seefahrt war besonders rege auf dem Aegäischen Meer. Der Verkehr führte aber auch bis an die Küsten des Schwarzen Meeres und nach Ägypten. Den fernen Westen mied man als eine fremde Welt.

Die Entstehung der griechischen Schrift

Mit dem Untergang der mykenischen Kultur verschwand auch das Wissen um deren Silbenschrift, und in Griechenland wurde für rund drei Jahrhunderte nicht mehr geschrieben.

Etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. lernten die Hellenen durch Handelsbeziehungen die phönikische Konsonantenschrift kennen, die sie alsbald übernahmen und für die eigenen Bedürfnisse abänderten. Die wichtigste Neuerfindung war die Hinzufügung von Vokalzeichen. Mit dem neugeschaffenen Alphabeth war es erstmals möglich, sämtliche Worte der Sprache auf einfache Weise lautgetreu aufzuzeichnen.

Homer

Im selben Jahrhundert, in dem die griechische Schrift entstand, dürfte der grosse Dichter Homeros gelebt haben. Mit seiner Kunst beginnt die europäische Literatur. Über sein Leben ist nichts Genaues bekannt. Man sagte, dass er blind war. Er sammelte mündlich überlieferte Gesänge und Erzählungen über den Krieg der Achaier gegen Troja und ihre Rückkehr in die Heimat und fasste sie zu den gewaltigen Epen Ilias und Odyssee. Die beiden Werke enthalten auch Darstellun-gen der Denk- und Lebensweise und der Religion der damaligen Zeit.

Homers ganze Liebe gehörte der sonnenbeglänzten Tageswelt. Der Dichter schätzte das irdische Leben als die Zeit, in der dem Menschen die Gelegenheit gegeben sei, die Kraft seines Fühlens und Schaffens zu entfalten. In die Unterwelt der tatenlosen Gespenster könne es niemanden ziehen; besser sei es, ein Sklave im Reiche des Lichtes als ein König bei den schattenhaften Verstorbenen zu sein.

Hesiod

Der Dichter Hesiodos wurde gegen Ende des 8. Jahrhunderts in Böotien, in dem bescheidenen Dorfe Askra, als Sohn kleiner Bauern geboren. Als er eines Tages am Hang des Berges Helikon Schafe hütete, wurde er von den Musen, neun lieblichen Töchtern des Zeus, besucht. Die Göttinnen der Künste und Wissenschaften kündeten ihm vom Ursprung der ewigen Götter und der Welt und forderten ihn auf, die Botschaft an die sterblichen Menschen weiterzugeben. Sie weihten ihn zum Sänger und Dichter. So kam es, dass Hesiodos in seinem Werke Theogonie, übersetzt «Die Herkunft der Götter», vieles von dem in Worte fasste, was heute noch als Religion der alten Griechen bekannt ist.

Die Wirkung Homers und Hesiods auf den Fortgang der griechischen Kultur war unermesslich: Die Hellenen erhielten durch sie eine gemeinsame Sprache und Götterwelt.

Die griechische Götterwelt

Ursprünglich gab es nur das Chaos, den gähnenden Raum, in welchem vieles von dem, was später entstehen sollte, formlos und durcheinandergemischt vorhanden war. Noch wallte alles in Finsternis. Da leuchteten Eros, die Liebe, und das Himmelslicht auf. Das Chaos erbebte und fing an, sich aufzutrennen, Gestalten zu bilden.

Zuerst trat Gaia, die Erde, aus dem Chaos hervor. Sie gebar Uranos, den gestirnten Himmel, und Pontos, das weite Meer.

Gaia und Uranos zeugten zusammen gewaltige Wesen, darunter etwa zwölf Söhne und Töchter von riesiger Gestalt, dieTitanen. Kronos, der Jüngste unter ihnen, war ihr mächtiger Führer. Er sollte den Vater Uranos stürzen und die Herrschaft übernehmen. Seine Schwester Rhea war zugleich seine Gemahlin. Prometheus erschuf die Menschen. Okeanos umkreiste als Strom die Erde. Sohn eines Titanenpaars war der Sonnengott Helios. Täglich lenkte er seinen golden strahlenden, mit vier feuersprühenden Pferden bespannten Wagen über den Himmel. Wenn er abends in den Okeanos untertauchte, erschien seine Schwester Selene, die Mondgöttin. Zwei weisse Rosse zogen ihr silbrig glänzendes Gefährt sanft über den nächtlichen Himmel.

Der Verbindung des Uranos mit Gaia entsprossen ferner hundertarmige Riesen und drei Ur-Kyklopen, denen mitten auf der Stirn ein einziges Auge glimmte.

Pontos und Gaia aber erzeugten den alten, gütigen Meeresgott Nereus. Der wohnte mit seiner lockigen Gattin und fünfzig anmutigen Töchtern in den Tiefen des Meeres.

Uranos, der Sternenhimmel, hütete eifersüchtig seine Macht. Er fürchtete das Altwerden und das Heranwachsen seiner Kinder und sperrte viele von ihnen, vor allem die Kyklopen und hundertarmigen Riesen, in die tiefste Finsternis unter der Erde, den Tartaros. Mutter Gaia, die Erde, rief die Titanen zur Befreiung der Gefangenen auf. Nur Kronos hatte den Mut, dem Vater entgegen-zutreten. Mit einer Sichel entmannte er Uranos. Dann übernahm er die Herrschaft über die Schöpfung und adelte auch seine Titanen-Geschwister zu Führern der Welt.

Wo Blutstropfen des Uranos auf die Erde fielen, entstanden die Giganten, ein Riesengeschlecht mit menschenähnlichem Ober- und schlangenförmigem Hinterleib; ferner die Erinnyen, die gefürchteten Göttinnen der Rache. Von Uranos› Blut tropfte auch etwas ins Meer. Es schäumte auf, und aus der Gischt entstand Aphrodite, die strahlende Göttin der Liebe.

Kronos, der neue Weltlenker, herrschte bald ebenso grausam wie sein Vater. Er hielt zunächst die Kyklopen, die hundertarmigen Riesen und Giganten in der Erde fest. Da ihm vorausgesagt war, dass eines seiner Kinder ihn entmachten würde, wie er Uranos gestürzt hatte, verschlang er sie, sobald seine Schwester und Gemahlin Rhea sie gebar. Nacheinander verschwanden Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon in seinem Leib.

Als die verzweifelte Mutter ihren jüngsten Sohn Zeus gebarriet ihr Gaia, einen Stein in Windeln zu wickeln und ihn dem Gatten zum Frasse zu reichen. Kronos ver-schlang das Wickelpaket ahnungslos und merkte auch nicht, wie Rhea das Kind im Schutze der Nacht auf die Insel Kreta brachte. In einer Höhle am Idagebirge wuchs der Knabe auf, gepflegt von Naturgöttinnen, die man Nymphen nennt, und geschützt von kretischen Jünglingen, welche Waffentänze veranstalteten, um das Schreien des Kindes zu übertönen. Zu spät gewahrte Kronos den Betrug, und vergeblich suchte er den jungen Gott an vielen Orten der Welt. Zeus aber wuchs heran, und als die Zeit reif war, eröffnete er den Kampf gegen den Vater Kronos.

Zeus liess Kronos ein Brechmittel geben, so dass er seine verschlungenen Kinder wieder ausspie, und befreite die Kyklopen und Giganten und später auch die hundertarmigen Riesen aus dem Tartaros. Auf dem Olympos, dem höchsten Berge Griechenlands, sammelte er seine Anhänger zum Kampfe. Gaia beteiligte sich an den Vorbereitungen mit Rat und Tat. Auf ihren Befehl schmiedeten die einäugigen Kyklopen Zeus als Waffen Blitz und Donner. – Kronos und diejenigen Titanen, die zu ihm hielten, rüsteten sich auf dem weiter südlich gelegenen Berge Othrys. – Es kam zu einem gewaltigen und zähen Ringen. Zeus schleuderte zuckende Blitze und liess den krachenden Donner rollen. Die Gegner brüllten und stampften und drangen wild aufeinander ein. Stürme tobten, Feuersbrünste wüteten, Flammen loderten bis zum Himmel empor, die Erde bebte, es hagelte Felsblöcke, das Meer wallte brausend auf. Schliesslich überwältigten Zeus und seine Helfer die alten Götter und errangen die Weltherrschaft. – Kronos und die Titanen wurden in den nebligen Tartaros gestürzt. Dort, im modrigen Abgrund der dunklen Unterwelt, wurden sie gefesselt, und die drei hundertarmigen Riesen übernahmen ihre Bewachung.

Die siegreichen olympischen Götter erwählten auf Gaias Rat Zeus zu ihrem Gebieter. Dieser teilte die Macht mit seinen Brüdern Hades und Poseidon. Das Los entschied, welcher Teil der Welt einem jeden zufiel. Zeus erhielt den lichten Himmel, Poseidon alle Gewässer und Hades die finstere Unterwelt. Auf der Erde aber, wo die sterblichen Menschen ihre Schicksale austrugen und schufen, wollten sie gemeinsam für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen.

Hades … stieg in die Unterwelt hinab und herrscht als König in der Tiefe der Erde über die Verstorbenen und die dunklen Mächte und dämonischen Gewalten, welche in der untersten Tiefe des Tartaros dräuen und hausen.

In marmorenem Palast sitzt Hades, schweigsam, verschlossen. Geheimnisvoll wie die Unterwelt ist ihr Herrscher. Ein Zauberhelm macht ihn unsichtbar. Alle Schätze der Erde gehören ihm, darum ist er auch Pluto der Reiche genannt.

Neben ihm thront unerbittlich und streng Persephoneia, die Gebieterin über die Erinnyen.

An der Pforte des Palastes wacht Cerberos der Höllenhund, grausam und voller Tücken. Jeden, der kommt, lässt er wedelnd herein, doch keinen lässt er je wieder zurück.

Dort auch strömt lautlos die dunkle Styx, des Okeanos älteste Tochter. Die Götter schwören heilige Eide bei diesem uralten, heiligen Wasser, das durch dunkle Nächte dahinfliesst, das Reich des Todes umkreisend.

Charon, der finstere Fährmann, bringt die Seelen, die aus dem Licht scheiden, in breitem Nachen über das dunkle Wasser der Styx, über den Acheron, den dumpfrau-schenden Strom des ewigen Wehs und der Seufzer, über den reinigenden Feuer-strom, und sobald sie vom Wasser der sanften Lethe getrunken, umfängt tiefe Vergessenheit des letzten Erdenlebens die Seelen der Toten.

Poseidon wurde zum Herrscher über alle Gewässer und das weithin sich dehnende Meer. Er wohnt im schimmernden Wogenpalast in der Tiefe des Meeres und fährt mit seinen wilden Rossen über die Wellen dahin, mit dem Dreizack die Wogen der Salzflut aufwühlend, dass sie brüllend schäumt.

Er trägt und stützt die meerumflossene Erde; doch wenn er mit dem Dreizack in die Rippen der Erde stösst, erbebt sie bis auf die Wurzeln erschüttert.

Auf Vorgebirgen liebt er zu thronen, ein starker, ungestümer, unbändiger Gott, das Haupt von dunklen Locken umwallt. Seine strahlenden Augen schimmern bläulich wie das Meer. Ein Blick des Meerbeherrschers, und die donnernden Wogen beruhigen sich.

Zeus thront im hellen Himmel und auf hohen Bergen. Er lenkt das Wetter. Er ballt die Wolken und tränkt die dürstende Erde mit Regen, er lässt stürmen, blitzen und donnern und drauf den Himmel sich wieder aufheitern. Er schaut weit in die Welt und in die Zukunft. Weise und gerecht herrscht er über ewige Götter und sterbliche Menschen. In entscheidenden Augenblicken greift er zu einer goldenen Waage und erwägt die Angelegenheiten seiner Schützlinge. Dabei hält er sich an die allem Götterwillen übergeordneten Fügungen des Schicksals, richtet sich nach einer höheren Ordnung, der alle olympischen Götter unterstehen.

Zeus zeugte eine grosse Zahl von Kindern, nicht nur mit seiner Schwester und Gemahlin Hera, sondern auch mit anderen Göttinnen und mit sterblichen Frauen. Darüber hinaus war er auch für männliche Reize empfänglich. Hera verfolgte die meisten seiner Geliebten mit unnachsichtiger Rache. Die stolze Himmelskönigin mit Macht über Mond und Sterne handelte gleichzeitig aus Eifersucht und als vorbildlich tugendhafte Hüterin der Frauenwürde, der Einehe und des Lebens.

Lange vor seiner Heirat mit Hera hatte Zeus die Okeanide Metis zur Frau genommen, deren Name Klugheit bedeutet. Gaia eröffnete Zeus, dass Metis ihm ein Kind gebären werde, das seine Göttlichkeit übertreffen und Himmel und Erde beherrschen sollte. Um seine Macht zu erhalten und sich obendrein die Klugheit seiner Frau anzueignen, verschlang Zeus Metis mitsamt dem Kind, das jetzt im Vater heran-wuchs. Schliesslich entsprang es seinem Haupt als die erwachsene, zum Kampf gerüstete Jungfrau Athene. Zeus blickte in der Folge mit bewundernder Liebe auf seine Tochter. Athene ist Intelligenz, verbunden mit Mut und Tatkraft, voll des praktischen Verstehens und des klugen Erdenkens, das selbst im Kampf wertvoller ist als physische Stärke. … Ihr heller, leuchtender Blick erfasst schnell, was der Augenblick erfordert, und stellt den schwersten Aufgaben rat- und schlagfertige Bereitschaft entgegen. Athene gab als Ortsgöttin der Stadt Athen ihren Namen, wo ganz besonders die Kultur des Verstandes erblühen sollte.

Die Titanin Leto gebar Zeus auf der Insel Delos die Zwillinge Apollon und Artemis. Apollon vertritt gegenüber dem noch recht irdischen Intellekt Athenes das höhere, philosophische Denken, das die göttliche Wahrheit sucht und findet, den Geist in Mensch und Welt entdeckt, unsterblich macht. Apollon lebt im Lichte; er sorgt für Klarheit, Selbst- und Welterkenntnis. Damit bändigt er alles Wilde und Niedrige, Überhebliche und Masslose und führt zu Beschränkung und Ebenmass, zur Reinigung und Ordnung, zur Harmonisierung und Aufrichtung und damit zur Heilung. «Nichts zu viel'» ist sein Grundsatz. Der grosse Gott der prophetischen Weissagung, der Künste und der Medizin rückte nach und nach zum neuen Sonnengott auf. In der Liebe aber hatte er wenig Glück, weder mit den Frauen noch mit den Männern, denen er zugetan war.

Artemis wurde an Stelle der alten Selene zur neuen Mondgöttin. Sie verabscheute die Männer, wählte die Jungfräulichkeit und schützte alle Jungfrauen.

Der Zeussohn Hermes war der Bote und Diener der Götter. Blitzschnell durch die Lüfte fliegend, führte er seine Aufträge aus. Er begleitete Wanderer und Reisende und führte die verstorbenen Seelen in die Unterwelt, um sie Charon zu übergeben. Seine behende und wendige Beweglichkeit imponierte den Sport-lern. Kaufleute und Diebe lernten von seiner listigen, wortgewandten Klugheit und seiner Fähigkeit, gute Gelegenheiten gewinnbringend zu nützen.

Nach ihrem Sieg über die Titanen erwählten die neuen Götter den hohen Olympos zu ihrem Wohnsitz. Heras Sohn Hephaistos, hässlich und lahm, aber ein tüchtiger Feuergott und Schmied, errichtete ihnen auf dem wolkenumhüllten Gipfel glänzende Paläste. Dort lebten sie leuchtend, in ewiger Jugend, meist sorglos und heiter, und von dort aus regierten sie die Welt.

Hephaistos› Gattin war Aphrodite, die bezaubernd schöne Göttin der Liebe. Sie verbildlichte eher die sinnliche Leidenschaft als eheliche Treue. Sie betrog ihren Gatten mit Göttern und sterblichen Männern. Ihr besonderer Liebhaber war der sonst allgemein verhasste, Verderben bringende, mordlustige Kriegsgott Ares, der wilde Sohn des Zeus und der Hera. Aphrodite vermochte Götter und Menschen verliebt oder lüstern zu machen; nur über Athene, Artemis und Hestia hatte sie keine Macht. Ihren Verehrern spendete sie Liebreiz und Fruchtbarkeit; diejenigen aber, die sie beleidigten oder sich über die Liebe erhaben wähnten, konnte sie grausam bestrafen.

Demeter, die Hüterin der Fruchtbarkeit und des Korns, lehrte die Menschen den Getreidebau. Ihr Name bedeutet ‹Mutter Erde›. Von ihrem Bruder Zeus empfing sie die Tochter Persephoneia. Ohne Demeters Wissen versprach Zeus das Kind dem Bruder Hades zur Braut. Als das Mädchen eines Tages auf der Insel Sizilien Blumen pflückte, tat sich die Erde auf, und Hades erschien und entführte es in die Unterwelt. Bald bemerkte Demeter den Verlust ihrer Tochter; sie verliess den Olymp und machte sich auf die Suche. Vom allessehenden Sonnengott Helios erfuhr sie, was geschehen war. Tieftraurig nahm die Göttin Menschengestalt an, hüllte sich in Lumpen und irrte auf der Erde umher. Als gramgebeugte Greisin gelangte sie nach Eleusis bei Athen und setzte sich an einem Brunnen nieder. Hier fanden sie die Töchter des Königs Keleos, die zum Wasser-schöpfen kamen. Sie luden die Alte in den Palast ein. Die Göttin ging mit und trat in den Dienst der Familie, zur Pflege des Söhnchens Demophon. Um dem Kinde die Unsterblichkeit zu geben, legte sie es jede Nacht ins Feuer. Als die Mutter das eines Tages entdeckte, schrie sie entsetzt auf. Demeter erkannte, dass die Menschen noch nicht reif waren für die Unsterblichkeit. Sie liess von ihrem allzu hehren Vorhaben ab, zeigte sich in ihrer wahren göttlichen Gestalt und gebot Keleos, ihr in Eleusis einen Tempel zu errichten. Sie lehrte ihn, neue, geheime Riten zu ihren Ehren zu begehen – die Eleusischen Mysterien. – Nach wie vor untröstlich und erzürnt über den Verlust der geliebten Tochter, liess Demeter die Felder verdorren, und eine grosse Hungersnot kam über die Welt. Um ein Aussterben der Menschen zu verhindern, mussten die Götter ihr entgegenkommen. Zeus drängte Hades, Persephoneia wieder in die Oberwelt zu entlassen. Hades lenkte halbherzig ein. Er gab ihr einen Granatapfel mit, von dem sie einige Kerne naschte. Wer aber im Hades ass oder trank, war ihm verfallen. Daher konnte sie nicht auf Dauer im Lichte wohnen, sondern musste zu gewissen Zeiten immer wieder in die Unterwelt hinabsteigen. Die eine Hälfte des Jahres verbrachte sie fortan im Schattenreich des Hades, die andere in der Oberwelt bei Demeter. Mutter Erde fand sich mit der neuen Regelung ab und liess immer dann alles Leben gedeihen, wenn sie sich der Gegenwart ihrer Tochter erfreuen konnte. So entstand der Wechsel zwischen dem kahlen Winter und dem fruchtbaren Sommer.

Zusammen mit Demeter und Persephoneia wurde in Eleusis Dionysos, der jüngste der grossen griechischen Götter, gefeiert. Er blickte auf einen dramatischen Werde-gang zurück: Eines Tages hatte Zeus in menschlicher Gestalt die thebanische Prinzessin Semele verführt. Sie wurde schwanger. Zeus› Gemahlin Hera schöpfte Verdacht, verkleidete sich als Semeles alte Amme Beroe und entlockte ihr den Namen ihres Geliebten. Die Prinzessin erzählte freimütig, dass Zeus als Mensch bei ihr erschienen sei und sie beschlafen habe. Die Alte gab vor, ihr nicht glauben zu können, und überschüttete sie mit beissendem Hohn. Darauf bat Semele Zeus, er möchte sich ihr als Gott zeigen. Er tat es, doch Semele konnte den strahlenden Glanz nicht ertragen und wurde todkrank. Sterbend brachte sie ihr halbgöttliches Kind zur Welt. Zeus schnitt sich tief in die Hüfte, legte das Kind hinein und nähte die Wunde wieder zu. Nach drei Monaten öffnete er die Stelle noch einmal und brachte Dionysos hervor. Hera reizte in ihrer Eifersucht die Titanen gegen den Gottessohn auf. Sie rissen den Knaben in Stücke. Athene aber rettete das noch schlagende Herz und brachte es Zeus. Dieser erzeugte daraus den Sohn zum zweitenmal.

Dionysos brachte den Griechen die polare Ergänzung zu der hellen, geraden, massvollen und ruhigen Klarheit Apollons: Er führte den Wein und den Rausch ein, das taumelnde Aussersichsein, schäumende Lebensglut, üppige Gelage und ausschweifende Feste. Er zog durch die Lande und pflanzte den Weinstock, umtanzt von wilden Weibern, die sich in Rehfelle hüllten, Fackeln und Stäbe trugen und sich wie Rasende gebärdeten. Dionysos wurde oft von Göttern und Menschen verlacht oder gar verfolgt, die ihn als Gott nicht anerkennen wollten. Erst nach vielen Auseinandersetzungen gewann er das ganze Griechenland für seinen Kult. In hellenistischer Zeit wurde er schliesslich als oberste Gottheit und Erlöser von aller Pein gefeiert.

Die Herrschaft des neuen Göttergeschlechtes war nicht auf Dauer gefestigt. Gaia, die Erde, hielt die Einkerkerung der Titanen im Tartaros für anmassend. Lange Zeit wartete sie auf deren Freilassung. Schliesslich gab sie die Hoffnung auf und entschied sich für den Krieg gegen die ihrer Meinung nach hochmütigen Olympier. Mit Tartaros zeugte sie das schlangen- und drachenartige Ungeheuer Typhon, das nicht nur tierisch pfiff, brüllte und grunzte, sondern auch die Sprache der Götter beherrschte. Diese Missgeburt und ihre Giganten-Söhne hetzte sie gegen Zeus und die Seinen. Es kam zu einer erbitterten Schlacht. Jetzt mussten die unsterblichen Vollgötter erleben, dass sie mit all ihren Waffen dem Ansturm der finsteren Mächte nicht standhalten konnten. Da aber eilten ihnen Halbgötter und Menschen zu Hilfe. Mit irdischen Mitteln gelang es, den Angriff abzuwehren, die Giganten zu töten und Typhon in den Tartaros zu stürzen.

Die Mysterien

Neben der Volksreligion gab es die geheime Religion der Auserwählten, die Mysterien.  Etwas wie ein geheimnisvoller Schleier liegt über der Art, wie innerhalb der alten Kulturen diejenigen ihre geistigen Bedürfnisse befriedigten, welche nach einem tieferen religiösen und Erkenntnisleben suchten, als die Volksreligionen bieten konnten. In das Dunkel rätselvoller Kulte werden wir geführt, wenn wir der Befriedigung solcher Bedürfnisse nach forschen. Jede Persönlichkeit, die solche Befriedigung findet, entzieht sich für einige Zeit unserer Beobachtung. Wir sehen, wie ihr zunächst die Volksreligionen nicht geben können, was ihr Herz sucht. Sie anerkennt die Götter; aber sie weiss, dass in den gewöhnlichen Anschauungen über die Götter die grossen Rätselfragen des Daseins sich nicht enthüllen. Sie sucht eine Weisheit, die sorglich eine Gemeinschaft von Priesterweisen hütet. … Wird sie von den Weisen reif befunden, so wird sie von ihnen auf eine Art, die sich dem Auge des Aussen-stehenden entzieht, von Stufe zu Stufe hinaufgeführt zu höherer Einsicht. … Sie scheint der irdischen Welt für einige Zeit völlig entrückt. … Und wenn sie wieder dem Tageslicht gegeben ist, steht eine andere, eine völlig verwandelte Persönlichkeit vor uns. … Sie erscheint sich, nicht bildlich bloss, sondern im Sinne höchster Wirklichkeit, wie durch den Tod hindurchgegangen und zu neuem höheren Leben erwacht. Und sie ist klar darüber, dass niemand ihre Worte recht verstehen kann, der nicht ein Gleiches erlebt hat. … die Mysterien von den Alten … als etwas Gefährliches angesehen wurden. Durch eine Welt von Furchtbarkeiten führte der Weg zu den Geheimnissen des Daseins. Und wehe dem, der unwürdig zu ihnen gelangen wollte. – Kein grösseres Verbrechen gab es als den ‹Verrat› der Geheimnisse an Uneingeweihte. Mit dem Tode und der Güterkonfiskation wurde der ‹Verräter› gestraft. … Der Eingeweihte ist über-zeugt, dass es sündhaft ist, zu sagen, was er weiss; und auch dass es für den Uneingeweihten sündhaft ist, es zu hören. … Eine besondere Lebensweise musste den Einweihungen vorangehen. Sie war dazu angetan, die Sinnlichkeit in die Gewalt des Geistes zu bringen. Fasten, einsames Leben, Kasteiungen und gewisse seelische Übungen sollten dazu dienen. Woran der Mensch im gewöhnlichen Leben hängt, sollte allen Wert für ihn verlieren. Die ganze Richtung seines Empfindungs- und Gefühlslebens musste eine andere werden.

… Die Weisheit, die dem Einzuweihenden dargeboten werden sollte, konnte nur dann die rechte Wirkung auf seine Seele tun, wenn er vorher seine niedere Empfindungswelt umgestaltet hatte. In das Leben des Geistes wurde er eingeführt. Er sollte eine höhere Welt schauen. Zu ihr konnte er ohne vorherige Übungen und Prüfungen kein Verhältnis gewinnen.

      Nicht die blosse Überzeugung von der Ewigkeit des Lebenskernes wollen die Mysten gewinnen. Nach der Auffassung der  Mysterien … ist in dem Nicht-Mysten das Ewige gar nicht lebendig vorhanden. … Es ist vielmehr dieses Ewige selbst, was die Mysten suchen. Sie müssen in sich das Ewige erst erwecken; dann können sie davon sprechen. Daher hat für sie das harte Wort des Plato volle Wirklichkeit, dass in Schlamm versinkt, wer nicht eingeweiht; und dass nur der in die Ewigkeit eingeht, der mystisches Leben durchgemacht hat. So nur auch können die Worte in dem Sophokles Fragment verstanden werden: ‹Wie hoch-beglückt gelangen jene ins Schattenreich – die eingeweiht sind. Sie leben dort allein – den andern ist nur Not und Ungemach bestimmt.›

     Mysterien gab es an vielen Orten Griechenlands. Zu den bedeutendsten zählten diejenigen von Eleusis.

Die Einrichtung der olympischen Spiele                   (776 v. Chr.) 

und der Beginn der griechischen Zeitrechnung

Olympia, im Westen des Peloponnes gelegen, hiess ursprünglich «der heilige Hain von Altis» und war eine Kultstätte. Hier befand sich das Grab des Helden Pelops, nach dem der Peloponnes benannt ist. Unter freiem Himmel häufte man die Gebeine der zahlreichen Opfer des launischen Flusses Alpheios zu einem Altar auf und verehrte da Zeus und seine Gemahlin Hera. Im Jahre 776 v. Chr. richteten hier die Griechen, die sich ihres gemeinsamen Volkstums bewusst geworden waren, das panhellenische Sportfest der Olympiaden ein, das fortan alle vier Jahre stattfand. Es wurde als Treffpunkt von Vertretern aller Stämme und Stadtstaaten so bedeutend, dass man auf seinen Rhythmus einen eigenen griechischen Kalender gründete. Für die Dauer eines Monats galt ein «heiliger Waffenstillstand», unterbrachen ver feindete Städte ihre Kriege, damit jede Polis ihre Abgeordneten zu den Wettkämpfen schicken konnte.

     Die Sportler waren Bürger, die von ihren Heimatstädten nach strengen Mass-stäben ausgewählt wurden. Sie mussten von griechischer Abstammung sein, die Götter geachtet, sich an die staatlichen Gesetze gehalten und mindestens zehn Monate trainiert haben. Trainiert und gekämpft wurde nackt. – Als Zuschauer waren ausser verheirateten Frauen alle Menschen zugelassen, auch Fremde und Sklaven.

     «Gedränge, Markt, Akrobaten, Vergnügungen und Diebe», so beschreibt der Dichter Menander die Erregung der Menschen während der Spiele. Sie fanden mitten im Sommer statt und dauerten sieben Tage. Am ersten Tag opferte man den allen Griechen heiligen olympischen Göttern, daher der Name «Olympia», und die Athleten legten ihre Redlichkeitseide ab. Vom zweiten bis zum sechsten Tag ereiferte man sich an den sportlichen Wettkämpfen. Die Männer massen sich im Schnelllauf, Langlauf, Waffenlauf, Ringkampf, Boxen und zum Schluss im Fünfkampf. Letzterer war die sportliche Prüfung schlechthin und bestand aus Laufen, Diskus- und Speerwurf, Ringkampf und Weitsprung. Die Griechen massen dem Fünfkampf einen besonderen Wert bei, weil sie der Ansicht waren, dass der Mensch sich nicht in einer bestimmten Richtung spezialisieren, sondern sich möglichst vielseitig betätigen sollte. – Die Knabenwettkämpfe umfassten Laufen, Ringen und Boxen. – Später kamen noch Reiter- und Wagen-rennen hinzu.

     Am letzten Tag wurden die Sieger geehrt. Vor versammeltem Publikum wurden ihre eigenen und die Namen ihrer Väter und Heimatstädte verkündet, und sie erhielten Kränze aus Olivenzweigen. Ihr Ruhm wurde im ganzen Land bekannt, und zu Hause wurden die Glücklichen von ihren Familien und Städten gefeiert.

     Später, vor allem in klassischer Zeit, erweiterte man die Anlagen von Olympia mit Tempel- und anderen Bauten.

Apollon und das Orakel von Delphi

Wie Olympia, so war auch Delphi in Mittelgriechenland seit uralter Zeit ein heiliger Ort. Hier wurde ursprünglich die Erdenmutter Gaia verehrt. Aber seit der strahlende Gott (Apollon) im 8. Jahrhundert seinen Einzug in Delphi gehalten … hat, blüht das Heiligtum auf und wird zum Zentrum des Griechentums, ja der ganzen Welt. Von hier gehen die wichtigsten Anregungen aus, nach denen sich die hellenische Kultur gestaltet.

     Apollon war als Sohn des Zeus und der Titanin Leto auf der Insel Delos geboren worden, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Artemis. Als der Gott erwachsen war, verliess er Delos, um eine Weissagungsstätte für die Menschen, ein Orakel, zu gründen. Delphi, in wilder Gebirgslandschaft, am steilen Südhang des Parnass und an der Kastalischen Quelle gelegen, erschien ihm für seine Pläne geeignet, aber verunreinigt durch Dämpfe, die westlich der Quelle aus einem Erdschlund heraufstiegen. Apollon erkannte in diesen Dünsten die Drachenschlange Python, die Tochter der Gaia, schoss Lichtpfeile auf das Ungeheuer ab und tötete es. Dieser Sieg des Lichtes über die Finsternis dürfte dazu beigetragen haben, dass der Zeussohn auch als Sonnengott aufgefasst wurde.

     An der Stelle, wo Apollon die Python überwunden hatte, liess er einen Tempel errichten. Er setzte eine Priesterin ein, nannte sie Pythia und trug ihr auf, ratsuchenden Menschen in seinem Namen wahr zusagen. Im Tempel sollte sie, auf einem Dreifuss über der Erdspalte sitzend und die seit seinem Sieg mit Lichtkraft durchsetzten Dämpfe einatmend, seine Gedanken- und Willensanregungen empfangen. Zu ihrer Unterstützung führte der Gott Mysterienpriester aus Kreta herbei. Sie sollten als Ratgeber der Menschen wirken und sie zum Denken und zur Pflege der Künste führen; ernähren sollten sie sich von Opfer-gaben. – Wenn nun die Pythia in den prophetischen Zustand kam, so stiess sie scheinbar zusammenhanglose Laute und Worte aus. Die dabei stehenden Mysterienpriester fingen ihre Äusserungen auf, suchten darin die göttlichen Hinweise und verwandelten sie in doppelsinnige Sprüche, die sie an die Fragesteller zur eigenen Deutung weiterreichten. Da die Menschen weniger und weniger von den Göttern geführt werden, sondern die freie Selbstbestimmung erlangen sollten, erteilte das Orakel kaum je klare Anweisungen, sondern gab bloss Anstösse zu selbständigem Denken und Handeln.

     Die Pilger, welche Delphi besuchten, wuschen sich vor ihrem Eintritt in den heiligen Bezirk und in den Tempel an der Kastalischen Quelle. Mit dieser symbolischen Reinigung wurde auf die Denktätigkeit hingewiesen, der sie entge-gengingen und die ihre irdischen Meinungen, Begierden und Triebe läutern sollte. – Kamen anfänglich vor allem Führer von Völkern und Städten, um der Pythia Fragen vorzulegen, von denen das Schicksal ganzer Gemeinschaften abhing, so folgten schon bald einfache Menschen mit ihren persönlichen Sorgen. Apollon, im Hintergrund des Orakels wirkend, behandelte jedes Anliegen mit gleicher Aufmerksamkeit. Mit seiner in der damaligen Zeit noch kaum begreiflichen Hinwendung zu jedem Suchenden, mochte er auf Erden viel oder wenig gelten, erweckte der Sonnengott doch erste Ahnungen von der Wirksamkeit des Geistes.

Der delphische Apollon galt in Hellas als höchste Autorität in allen kultischen und rechtlichen Fragen. Die griechischen Staaten wandten sich an das Orakel und baten um Gesetze über Götterkulte, Opfer, die Totenbestattung, den Tempel-bau; oder sie wünschten Hinweise auf die Art der besten Regierung, wie man das Zusammenleben im Staate ein richten sollte usw. Der Lichtgott lieferte auch da keine fertigen Antworten, sondern regte durch die Sprüche der Pythia die Selbstbestimmung der Menschen an. Gelegentlich ernannte oder anerkannte er einen Gesetzgeber, der nach eigenem Ermessen Regelungen traf, sie aber vom Orakel bestätigen liess. Die beiden so grundverschiedenen Verfassungen von Sparta und Athen, die von Lykurgos und Solon mit delphischem Beistand geschaffen wurden, verdeutlichen eindrücklich Apollons Art zu helfen: Er legte sich nicht auf einen bestimmten Verfassungstyp fest, sondern liess die verschiedensten Lösungen gelten, wenn die durch sie geschaffenen Ordnungen nur einleuchtend waren und dem Ziele dienten,  das ungeordnete Durcheinander der erwachen-den egoistischen Triebe der Menschen zu einem … funktionierenden Organismus zusammenzuschliessen.

      Alles, was das Leben der frühen Griechen bestimmte, wird nach und nach in die eigene Verantwortung der Menschen übergeben. Auch die Einhaltung der Gesetze, die ehedem von den Göttern überwacht wurde, wird jetzt in die Zuständigkeit der Menschen überwiesen. Die Übeltäter und Frevler können nicht mehr durch Gott von ihrer Tat entbunden werden, sondern müssen sich vor menschlichen Richtern verantworten. … Auch vor Gericht sind alle Menschen gleich. Ob der Beklagte von vornehmer oder einfacher Abkunft ist, ob er arm oder reich ist, seine Taten werden gleich beurteilt und auch gleich bestraft. Das Ansehen eines Menschen wird immer weniger nach äusserlichen Kriterien bestimmt, aber dafür wird mehr und mehr die innere Verantwortlichkeit der Seele hervorgehoben.

    Delphi wies Griechen und Fremden die Zukunft. Ungeachtet ihrer gegenwärtigen Lagen sollten sie selbständig denken und handeln lernen, die Selbstbestimmung erlangen. Folglich musste auch die Sklaverei nach und nach ein Ende finden. Man richtete die Möglichkeit ein, dass Sklaven bei der Kultstätte Geld sparten, um sich schliesslich von ihr freikaufen zu lassen. Wer davon Gebrauch machte, arbeitete sich selbst zum freien Bürger empor, und seine neue Stellung wurde im Heiligtum durch einen eingemeisselten Vertrag öffentlich bestätigt.

Die griechischen Staaten verdankten die guten Ratschläge des Orakel mit oft kostbaren Weihgeschenken, die sie im heiligen Bezirk auf stellten oder erbauten. Denkmäler, Statuen, Schatzhäuser, Teile von Siegesbeuten usw. säumten mehr und mehr den Weg, der zum Tempel Apollons anstieg, und zeugten von bedeutenden geschichtlichen Ereignissen.

Rund 200 Jahre nach Olympia nahm auch Delphi die Pflege grosser Feste auf, die alle vier Jahre begangen wurden. Die Pythischen Spiele zu Ehren Apollons umfassten neben den sportlichen aber auch künstlerische Wettkämpfe. Im Stadion und im Theater des Heiligtums rangen vor gesamtgriechischem und auswärtigem Publikum viele Athleten, Musiker und Dichter um die Lorbeer-kränze, die den Siegern ebenso grossen Ruhm einbrachten wie die olympischen Olivenkränze.

Die Griechen gaben viel auf die Förderung der denkerischen und künstlerischen Fähigkeiten. Die Anlagen zu jeder Art von Bildung und Kultur führten sie auf die Musen und ihren Führer Apollon zurück.  Was den Menschen über seine Natürlichkeit hinaushebt und ihn erst zum eigentlichen Menschen macht – der musische Bereich -, das verdankt der Grieche Apollon. – Die griechische Kultur beruht darauf, dass das Ideal der musischen Bildung vom Menschen erkannt und ergriffen werde: ‹Denn wodurch sich der Mensch vor dem Tier und der Grieche vor dem Barbaren auszeichnet, ist, dass er besser gebildet ist zum Denken und zum Reden.› Diesen Satz spricht der Zeitgenosse Platons, Isokrates, in einer Mahnrede an die Athener aus, um sie dazu zu bewegen, sich mehr in den eigentlichen menschlichen Künsten zu üben.

     Übungen im Denken und in den Künsten zähmen des Menschen wildeste Triebe und Leidenschaften, wirken mässigend, heilsam, veredelnd auf seine Seele und lassen seinen Geist die Wahrheit finden, den Göttern entgegenwachsen, Unsterblichkeit erlangen. Solche Einsichten suchten entwickelte Persönlichkeiten immer wieder von den verschiedensten Seiten her an ihre Volksgenossen heranzubringen. Diesem Zweck dienten auch die Sprüche der sogenannten Sieben Weisen. Letztere sind bedeutende Gestalten der griechischen Frühzeit, die das Ideal des weisen Menschen als erste darleben und für die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft einsetzen. Als grosse Gesetzgeber, Schiedsrichter und Ratgeber sind sie in die Geschichte eingegangen. …

Die Legende verbindet die Sieben Weisen mit Delphi, wo sie sich getroffen und ein Symposion veranstaltet haben sollen. Die Summe ihrer Weisheit haben sie in kurzen, prägnanten Formeln Apollon zum Geschenk gemacht. Diese sind, für jeden sichtbar, am Eingang seines Tempels, auf Stelen eingeschrieben gewesen. Allen voran das berühmte Wort des Thales: ‹Erkenne dich selbst›, das wohl auch direkt als Aufforderung des Gottes verstanden wurde. Es folgten die Sprüche, die in aller Munde waren: ‹Alles mit Mass›, ‹Erkenne den rechten Augenblick›, ‹Alles ist Übung› u. a.

Delphi kann als eine griechische Mysterienstätte gelten. Plutarch, der hier lange Zeit priesterliche Aufgaben wahrnahm, bezeichnete sich selbst als einen Eingeweihten. Als solcher erläuterte er das «Erkenne dich selbst» mit Betrachtungen über Vergänglichkeit und Ewigkeit: «Denn der Gott begrüsst gleichsam einen jeden von uns, der sich ihm hier nahet, mit dem: Kenne dich selbst … . Wir aber erwidern darauf der Gottheit mit den Worten: Du bist, und bringen ihr damit den Gruss des Seins als den wahren, ursprünglichen und allein ihr zukommen-den. – Denn wir haben eigentlich hier keinen Anteil an diesem Sein, sondern eine jede sterbliche Natur, indem sie zwischen Entstehung und Untergang in der Mitte liegt, zeigt bloss eine Erscheinung und ein schwaches und unsicheres Wähnen von sich selbst; … ein sterbliches Wesen … entsteht und vergeht; es geht herzu und geht weg. Daher das, was wird, nie zum wahren Sein gelangen kann, weil die Entstehung nie aufhört oder einen Stillstand hat, sondern schon beim Samen die Veränderung anfängt, indem sie einen Embryo bildet, dann ein Kind, dann einen Jüngling, einen Mann, einen Alten und einen Greis, indem sie die ersten Entstehungen und Alter stets vernichtet durch die darauffolgenden. … Das Gestrige ist Sterben in dem Heutigen, das Heutige stirbt in dem Morgenden; keines bleibt oder ist ein Einziges, sondern wir werden vieles, indem die Materie sich um ein Bild, um eine gemeinschaftliche Form herumtreibt. … Die sinnliche Wahrnehmung verführte uns nur, weil wir das wahre Sein nicht kennen, was bloss scheint, dafür zu halten».

     Plutarch gab auch eine überraschende Deutung der Götter Apollon und Dionysos. In seiner Sicht ist Dionysos kein anderer als der in die Mannigfaltigkeit der Sinneserscheinungen verwandelte und zerfallene Apollon. Der Gott sei zwar seinem Wesen nach ewig, unterziehe sich aber, ein Weltgesetz befolgend, Wandlungen seines Wollens und Denkens. Bald verliere er sich in die Vielfalt der Wahrnehmungen und werde in solcher Zerstückelung Dionysos oder Welt genannt; bald finde er zu sich selber zurück und entflamme alles zu Feuer (welches sein apollinisches Geisteslicht symbolisiert). «Um dies vor der Menge geheim zu halten, nennen die Weiseren die Verwandlung in Feuer Apollon wegen des Einsseins, und Phoibos wegen der Reinheit und Unbeflecktheit; wenn er sich aber in Winde und Wasser, Erde und Gestirne und die Geschlechter von Pflanzen und Tieren verwandelt und umgestaltend zerlegt, so stellen sie dieses Geschehen, diese Veränderung in verhüllender Andeutung als Zerreissung und Zergliederung dar, geben ihm den Namen Dionysos … und indem sie von Untergang und Vernichtung und danach Wieder-aufleben und Wiedergeburt erzählen, tragen sie hintergründige Mythen vor, die den besagten Verwandlungen angepasst sind.»

 

Die grosse Kolonisation

Die Mysterienstätte von Delphi, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Denkkraft in der Menschheit zu erwecken, beabsichtigte die Ausbreitung der Griechen und ihrer Kultur ins Ausland. Äussere Umstände kamen den Plänen der Priesterschaft entgegen. Bodenarmut, Übervölkerung und Landverknappung in der Heimat, ein Aufschwung  in Gewerbe, Handel und Seefahrt und die Suche nach neuen Warenabsatzgebieten be wogen immer mehr Hellenen zur Auswanderung. Delphi riet zur Anlage von Kolonien im Ausland. Das Orakel benannte die Führer der Auswanderer und bestimmte die Lagen und Götterkulte der neuen untersucht. Schwäch-liche oder missgestaltete Säuglinge setzte man in der Wildnis aus. Die Buben, die in die Gemeinschaft aufgenommen wurden, blieben nur bis zum 7. Lebensjahr im Elternhause. Sie wurden von Ammen erzogen, die wegen ihrer Strenge in ganz Griechenland berüchtigt waren. Bei ihnen lernten sie, Launen, Furcht und Tränen zu unterdrücken.

     Mit sieben Jahren mussten die Jungs ihre Familien verlassen. Der Staat, der Anspruch auf jeden Einzelnen erhob und keine persönliche Entwicklung zuliess, steckte sie in eine vormilitärische Erziehungsanstalt, um sie auf das Soldatenleben vorzubereiten. Man brachte ihnen bei, dass sie bloss als Glieder des Heereskollektivs etwas bedeuteten und im Kriegsdienst den Sinn ihres Lebens zu sehen hätten. Man schnitt ihnen die Haare und wies sie an, barfuss und nackt zu gehen. Bei schmaler Kost und hartem Lager gewöhnten sie sich an anspruchslose Lebensweise und körperliche Unempfindlichkeit. Wem es gelang, Lebensmittel zu entwenden, ohne ertappt zu werden, erntete Lob für seine List; liess er sich aber erwischen, setzte es Prügel ab. Täglich stählten die «kleinen Wölfe» auf dem Sportplatz den Leib mit leichtathletischen Übungen, Fechten, Speerwurf, Ringkampf und kriegerischen Tänzen. Sie mussten Gehorsam lernen, geduldig Mühen auf sich nehmen und in jedem Wettstreit den Sieg erstreben. Zu verzagen und aufzugeben, galt als Schande. «Alljährlich wurde durch eine Art Prüfung festgestellt, wie weit die Abhärtung gegen körperliche Schmerzen fortgeschritten sei: man peitschte die Jungen vor dem Altare der Artemis bis aufs Blut, und wer es am längsten aushielt, ohne eine Miene zu verziehen, war Sieger.»

     Die zwölfjährigen Knaben erhielten einen Umhang, das einzige Kleidungsstück für das ganze Jahr. Die Jugendlichen durften oft an den Mahlzeiten der Männer teilnehmen, um aus den Tischgesprächen zu lernen. Doch war ihnen verboten, unaufgefordert dreinzureden. Auf Fragen sollten sie knapp und klar antworten, unnütze Worte vermeiden. Dem Alter hatte man Achtung zu zollen, auf der Strasse bescheiden und ernst aufzutreten. Gegen Missachtungen der Anstandsregeln schritten die Erwachsenen mit dem Stock ein.

     Sechzehnjährige Jünglinge traten in die Kaserne über. Hier waren die vierjährige Rekrutenschule und der zehnjährige Militär dienst abzuleisten. Rekruten und Soldaten lebten in Wohn- und Schlafgemeinschaft. Tag für Tag simulierten sie den Krieg. Die höhere Geistesbildung wurde vernachlässigt. Wohl lernte man lesen und schreiben, aber schon die Musik wurde nur soweit gepflegt, als sie militärische Märsche und Feste begleitete. Alle übrigen Musen überging Sparta verständnislos; es brachte daher in Philosophie und Kunst auch nichts Bedeutendes hervor. Aristoteles schreibt: «Man sollte sich zivilisierte Männer zum Vorbild nehmen und nicht Raub -tiere, denn sie sind es, die zu wahrem Mut fähig sind. Alle, die wie die Spartaner ohne Bindung an kulturelle Werte erzogen werden, verwandeln sich von Menschen in Maschinen.»

     Zu den Soldatenpflichten gehörte auch die Bespitzelung der Heloten. Von Zeit zu Zeit mussten einige hundert junge Spartiaten einzeln und unauffällig das Land durchstreifen, um die Untertanen zu belauschen. Erschien ihnen einer verdächtig, so hatten sie ihn umzubringen.

     Die Mädchen wuchsen im Hause auf. Sie wurden zu strammen und kräftigen Müttern erzogen, die dem Vaterlande kriegstaugliche Söhne gebären sollten. In den Turnhallen und Stadien trieben sie viel Sport, nackt wie die jungen Männer. Hausarbeiten erlernten sie nicht, denn dazu hatte man Sklavinnen.

     Mit 30 Jahren erreichte der Spartiate die Mündigkeit. Er wurde aus der Wohn- und Schlafgemeinschaft der Kaserne, nicht aber aus der Kriegsdienstpflicht entlassen. Bis zum Alter von 60 Jahren hatte er mit seinen Waffenkameraden zusammen die kargen Hauptmahlzeiten einzunehmen und für den öffentlichen Tisch zeitweise bestimmte Vorräte abzuliefern. Sofern die militärische Lage es zuliess, durfte und musste der Vollbürger jetzt eine Familie gründen. Ehelosigkeit war unter Strafe gestellt, damit die Vermehrung des Adelskollektivs gesichert bliebe. Auch unter den Volljährigen wurde kein Luxus geduldet. Jedermann trug die gleiche Kleidung, ein Hemd und einen Mantel aus grober, ungefärbter Wolle.

     Die Mündigkeit beinhaltete für den Mann auch das Recht, an der Volksversamm-lung teilzunehmen. An jedem Vollmondtag riefen die beiden – traditionsgemäss nebeneinander regierenden – Könige und der Rat der 28 Alten – die über 60 Jahre zählten und von der Volksversammlung auf Lebenszeit gewählt waren – das dorische Herrenvolk zusammen. Könige und Ratsherren, die als einzige das Wort ergreifen durften, stellten Anträge und schlugen Bürger zur Wahl in Ämter vor. Diskutiert wurde nicht; die Menge entschied mit Ja oder Nein. Nach der Eroberung Messeniens wurden die Befugnisse der Könige eingeschränkt. Nur der Vollzug der Opferhand-lungen der Staatsreligion und das Kommando über das Heer blieben ihnen bis in späte Zeit. Zur Aufsicht über die Amtsführung der Könige bestellte man die fünf Ephoren. Diese priesterlichen      Die Spartaner schrieben ihre Verfassung dem sagenhaften und göttlich verehrten Gesetzgeber Lykurgos zu, der im 9. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll. Vom 7. Jahrhundert an blieb die Satzung nahezu unverändert.

     Bis zum Tode verfügte der Staat über seine Bürger; sie waren seine Sklaven, wie die Heloten die ihrigen. Individuelle Regungen wurden im Keim erstickt, Einord-nung in die Gemeinschaft galt alles. Der Staat war nicht zum Wohl der Bürger da, sondern die Bürger zur Macht des Herrenkollektivs. «In keinem anderen griechi-schen Gemeinwesen war die individuelle Freiheit so stark zugunsten des Gemein- schaftsgedankens eingeschränkt. Man fürchtete deshalb die Berührung mit dem Ausland, weil sie einen zersetzenden Einfluss haben könnte. Daher schloss man sich ab und verbot Reisen in andere Länder zu persönlichen Zwecken.» Fremde durften sich nur vorübergehend und unter strenger Bewachung in Lakedaimon aufhalten.

     Die Hellenen jenseits der Grenzen, die in der Geisteskultur und Persönlichkeits-entfaltung fortschritten, sahen in Sparta ein verknöchertes Gebilde aus der alten Zeit, das in ihnen mehr Mitleid als Bewunderung erweckte.

Familie und Gesellschaft in Athen

Haus und Erziehung 

                                     

Eine Familie sah in Athen kaum anders aus als bei uns.  Sie bestand aus Mann, Frau und Kindern. Wir nennen das eine Kernfamilie. Wenn die Eltern des Mannes noch lebten, wohnten sie oft mit der Kernfamilie zusammen. Die Söhne waren durch Gesetz verpflichtet, für den Unterhalt der alten Eltern zu sorgen. Im Athen des 5.Jahrhunderts v. Chr. konnten gültige Ehen nur zwischen Athenern geschlossen werden. Gingen aus der Ehe Kinder hervor, so entschied der Vater darüber, ob das Kind angenommen oder ausgesetzt werden sollte. Wurde das Kind angenommen, so trug es der Vater am siebten Tag nach der Geburt in der sogenannten Amphidromie um den Herd herum, wobei ihm die Hausgenossen und die Hebamme folgten. Der Herd galt als heiliger Mittelpunkt des Hauses; die Amphidromie bedeutete also, daß das Kind nun Mitglied der Familie als religiöser Gemeinschaft geworden war. Am zehnten Tag nach der Geburt erhielt das Kind seinen Namen.

Die Erziehung der Kinder bis zum 6./7. Lebensjahr lag in den Händen der Mutter. Wohlhabende Familien übertrugen diese Aufgabe oft auch einer Amme. Sobald das Kind laufen konnte, spielte es in Haus und Hof, aber auch auf der Straße und lernte so schon die Welt der Erwachsenen kennen. Wie bei uns gab es typische Spiele für Mädchen und Jungen, auch wenn die Erziehung in diesem Alter noch nicht nach Mädchen und Jungen getrennt war. Nach der Vollendung des 6./7. Lebensjahres blieben die Mädchen oft bei der Mutter, wurden von ihr in die häuslichen Tätigkei-ten (dazu gehörten auch Spinnen und Weben) eingeführt und so auf die Ehe vorbe-reitet. 

Einige Mädchen und die meisten Jungen konnten eine Schule besuchen, in der sie lesen, schreiben und die Grundrechenarten lernten. Diese Fähigkeiten brauchte man u. a. für die politische Betätigung in der Demokratie. Die Ausbildung dauerte drei bis vier Jahre. Der Schulbesuch war nicht kostenlos wie bei uns. Das Schulgeld war in Athen jedoch so niedrig, daß auch ärmere Familien ihre Kinder zur Schule schicken konnten . Wohlhabendere Familien ließen ihre Söhne daneben in Musik und Gymnastik ausbilden. Schließlich gab es in Athen für die reichen Jugendlichen noch den sehr teuren Unterricht in der Redekunst, der Rhetorik. Sie ist mit unserer Universitätsbildung vergleichbar und sollte die Jugendlichen dazu befähigen, als Redner in der Volksversammlung und vor Gericht aufzutreten. 

Die Entwicklung der Demokratie in Attika

Die Landschaft Attika war von der dorischen Einwanderung verschont geblieben und hatte vielen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt. Spuren von Burgen erinnerten an die mykenische Zeit, so die sogenannte Pelasgermauer am Rand der Akropolis. Rund um den Burgberg scharten sich die kleinen, weissen Häuser Athens. Theseus soll den Ort zur Hauptstadt erhoben und das Ländchen geeint haben. Von den drei nebeneinanderliegenden Häfen Munychia, Zea und Piräus ging ein lebhafter Seehandel aus; grösstenteils wurde Oel exportiert. An der Kolonisation nahm Attika nicht teil.

     Die Herrschaft lag ursprünglich beim König. Ihm zur Seite standen in führenden Stellungen die alten und bodenreichen Aristokratenfamilien. Diese bauten ihre Macht im Lauf der Zeit aus und schränkten die Krone immer mehr ein, bis der letzte König, der Sage nach, in einer Schlacht gegen herandrängende Dorier fiel. Man er setzte ihn nicht mehr, sondern verteilte seine Befugnisse auf den Regierungsrat der neun Archonten, die alljährlich aus den Vertretern des Adels gewählt wurden. Ausgediente Archonten traten in den Areopag über, eine Behörde, die den Familien-verbänden die Blutgerichtsbarkeit abnahm und sich mit Verfassungs- und Verwaltungsfragen befasste. Mit diesen Neuerungen löste die Adelsherrschaft das Königtum ab. Die seit alters bestehende Volksversammlung blieb erhalten, in der alle Grundbesitzer als freie Burger über Vorschläge von Edelleuten abstimmen konnten, welche Gesetzesänderungen, Krieg und Frieden oder Beamtenwahlen betrafen.

     Durch den Handel mit den Kolonien erstarkte der Mittelstand der Handwerker und Kaufleute. Er ordnete sich dem Adel nicht mehr ohne weiteres unter, sondern forderte eine Beteiligung an der Stadtregierung.

     Ein schweres Leben fristeten die Kleinbauern. Mühselig rangen sie dem steinigen Boden Oliven, Feigen, Trauben und Korn ab. Im 7. Jahrhundert, als man von der Tausch- zur Geldwirtschaft überging, beherrschte die Insel Aegina vorübergehend den regionalen Handel, unterband den freien Warenverkehr und schädigte so den attischen Markt. Die meisten Landwirte mussten bei reichen Edelleuten Anleihen aufnehmen. Bei dem hohen Zinsfuss von 12 oder mehr Prozent gerieten sie immer tiefer in Schulden. Wenn sie schliesslich bloss Haus und Hof an die Gläubiger verloren und den Boden als freie Angestellte gegen bescheidenen Lohn weiter bewirtschaften durften, konnten sie von Glück reden. Schlimmer war es, wenn sie mitsamt ihren Familien als Sklaven an die Adligen fielen.

     Eine dumpfe Verzweiflung machte sich breit. Es kam zu einem Putschversuch gegen die Herrenschicht, der aber misslang. Einige Jahre danach liess sich der Adel zu einigen Zugeständnissen herbei. Unter anderem beauftragte er den Archon Drakon, das bisher ungeschriebene Gewohnheitsrecht auf Gesetzestafeln aufzuzeichnen, um der Willkür der adligen Richter Schranken zu setzen. Doch Drakon opferte dem Volk nicht viel; seine Gesetze bevorzugten einseitig den Adel. Die Starken beuteten die Schwachen aus wie zuvor. Die Wut der Unterlegenen entlud sich in blutigen Zusammenstössen. Verwegene Volksführer suchten die Macht an sich zu reissen. Der Adel sollte enteignet, seine Güter aufgeteilt werden.

Attikas Retter wurde Solon. Als Nachkomme eines alten Königsgeschlechtes gehörte er dem Adel an. Er wurde Kaufmann und erwarb sich auf weiten Reisen eine umfas-sende Bildung. Er sah klar, dass nicht ein unabänderliches Geschick auf der Heimat laste, sondern die Habgier ihrer Bürger. In Versen, die zum Teil noch erhalten sind, schilderte er eindringlich die Not des Volkes, warnte vor dem drohenden Zerfall des Vaterlandes und forderte rasche Abhilfe. Es fehlte nicht an Stimmen, die ihn verdächtigten, er erstrebe die Alleinherrschaft, nach dem Vorbild auswärtiger Tyran-nen, welche Spannungen zwischen Parteien zu eigenen Zwecken ausgenützt hatten. Schliesslich aber schwand das Misstrauen, und die Athener ernannten Solon für das Jahr 594 v. Chr. zum ersten Archon. Sie ermächtigten ihn, mittels Verfassungs- und Gesetzesänderungen Aristokratie und Volk zu versöhnen.

     Solon wagte die Gratwanderung zwischen unnachgiebigen Aristokraten einerseits, die an ihrer politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung festhalten wollten, und radikalen Aufständischen anderseits, die eine Neuaufteilung des Bodens verlangten. In einem ersten Schritt setzte er die Aufhebung der Schuldsklaverei für alle Zukunft durch, denn Verhältnisse, welche schwächere Mitbürger in Knechtschaft stürzten, konnte er nicht als rechtmässig anerkennen. Wer seinem Gläubiger verfallen war, musste freigegeben werden. Hinzu kam eine vollständige Entschuldung der Landwirtschaft, wobei Solon selber einen grossen Teil seines Vermögens verlor. Damit ermöglichte er den Bauern, auf dem eigenen Acker frischen Mutes von vorn zu beginnen. – Von einer Plünderung des Adels, wie die Menge sie wünschte, nahm Solon Abstand; er achtete das Eigentum. Doch setzte er dem Landerwerb eine Höchstgrenze, um zu verhindern, dass die Güter an wenige Grossgrundbesitzer fielen.

     Mit seiner Verfassungsreform hob Solon die Geburtsvorrechte des Adels auf und stufte die Bürger nach Vermögen und Einkommen in vier Klassen mit unterschied-lichen Pflichten und Rechten ein. (Eine solche Staatsform nennt man eine Timo-kratie.) Die «Fünfhundertscheffler» mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von mindestens 500 Scheffeln oder Eimern Getreide, Oel oder Wein und die «Ritter» mit einer Ernte zwischen 500 und 300 Masseinheiten bildeten die Reitertruppe und stellten die Streitpferde. Die «Ochsengespännler» mit einem Einkommen zwischen 300 und 200 Scheffeln oder Eimern kämpften als gepanzerte, schwerbewaffnete Fuss-soldaten  (Hopliten); sie kamen für Rüstung und Unterhalt im Felde selber auf. Die «Taglöhner» mit einem noch geringeren Verdienst leisteten gewöhnlich keinen Mili-tär dienst, wurden aber im Ernstfall zur Unterstützung des Heeres auf geboten und bewaffneten sich dann, so gut es ging. Nach den vier Klassen wurden auch die Steuern bemessen, die der Staat allerdings nur vom Vermögen und ganz ausnahms-weise erhob.

     «Alle freien Bewohner von Attika … galten fortan als vollwertige athenische Bür-ger. Wer aber kraft seines höheren Einkommens für den Staat mehr leistete, sollte auch einige Vergünstigungen geniessen. So durften die neun Archonten, welche nach wie vor die oberste Behörde des Landes bildeten, nur aus der ersten Klasse ge- nommen werden. Ihnen stellte jedoch Solon  einen grossen Rat von 400 Mitgliedern zur Seite, in den die Angehörigen aller drei höheren Klassen, also auch die des Mittelstandes, wählbar waren. Dieser Rat der Vierhundert beaufsichtigte die Regie-rung, überwachte Ausgaben und Einnahmen und beriet über die Gesetze, welche freilich erst Gültigkeit bekamen, wenn sie vom Volk angenommen wurden.» An der Volksversammlung durfte jeder freie Bürger, auch der ärmste, vom 20. Geburtstag an teilnehmen. «Sie trat zu bestimmten Zeiten auf dem Marktplatz in Athen zusammen, später auf der Pnyx, einer eigens dafür hergerichteten, felsigen Anhöhe ausser-halb der Stadt. Da wurden die Archonten gewählt, da wurde abgestimmt über Krieg und Frieden, Bündnisse, Gesetze und sonstige Anträge der Behörden. Jeder unbe-scholtene Bürger konnte das Wort ergreifen, nur gebot die Sitte den jüngeren und unerfahrenen Zurückhaltung. Abstimmungen erfolgten durch Handmehr.» Die Volksversammlung konnte jederzeit die Archonten zur Verantwortung ziehen und bestrafen, und sie entschied über deren Übertritt in den Areopag. – Zum Schutz des Volkes richtete Solon auch ein Geschworenengericht ein, das alljährlich aus sämtlichen Klassen ausgelost wurde und sich eidlich verpflichtete, nach bestem wissen und Gewissen Recht zu sprechen. Dort konnte man Berufung gegen jede behördliche Massnahme einlegen. – Die fremden Einwanderer (Metöken) erhielten in Athen recht günstige Bedingungen, und die Einbürgerung wurde ihnen erleichtert.

     Nachdem Solon das Zusammenleben der Menschen im Staate neu geordnet hatte, arbeitete er ein Gesetzbuch aus, in dem er Kalender, Geld, Gewicht, Straf- und Erbrecht und einen Teil der persönlichen Belange regelte. Schroff trat er der verbrei-teten Meinung entgegen, dass Arbeit des vornehmen Mannes nicht würdig sei. Er verbot dauern den Müssiggang, ausschweifende Lebenshaltung, übertriebenen Luxus, die üble Nachrede und den bösen Klatsch.

     Grossen Wert legte Solon auf die Erziehung der Jugend. Die Eltern wurden verpflichtet, ihre Kinder nach Kräften geistig und körperlich und möglichst vielseitig ausbilden zu lassen. Private Schulen lehrten Lesen, Schreiben, Literatur, Rezitation, Gesang, Musik und Tanz. Zur körperlichen Ertüchtigung öffnete der Staat seine Sportplätze (Gymnasien), auf denen sich bisher nur die Herrensöhne getummelt hatten, auch den armen Bürgern.

     Alle Reformen Solons dienten der Versöhnung alter Gegensätze, dem friedlichen Zusammenleben und dem Wachstum der Vernunft. Die Menschen sollten zu mündigen Staatsbürgern heranreifen, indem sie masshalten lernten und ein Bewusstsein der Verbundenheit mit dem Ganzen entwickelten. Immer wieder ging er mit gutem Beispiel voran. Nach Ablauf seiner Amtszeit lehnte er die Aufforderung, die Alleinherrschaft zu ergreifen, ab und trat gesetzmässig zurück. Nachdem er den Beamten den Eid abgenommen hatte, dass die neuen Ordnungen und Gesetze zur Erprobung zehn Jahre lang unverändert beibehalten würden, begab er sich auf Reisen nach Lydien und Ägypten.

Kurz nach Solons Abgang erhoben sich die alten Streitigkeiten von neuem. Als er in hohem Alter zurückkehrte, hatten sich aus dem Bürgerzwiste drei Parteien heraus-gebildet: die Grundherren der Binnenebene, die sich mit der Beschneidung ihrer Vorrechte und Besitztümer nicht abfinden konnten; die Gewerbe und Handel treibenden Küstenbewohner, welche für Solons Vermittlungspolitik eintraten; die erbitterten Bergbauern des nordöstlichen Landesteiles, die auf einer Neuverteilung des Bodens beharrten.

     Der adlige Peisistratos wusste sich die Auseinandersetzungen geschickt zunutze zu machen. Er stellte sich als Führer vor die unzufriedenen Bergbauern und Arbeiter der Stadt. Eines Tages er schien er blutend auf dem Markt und schimpfte, er sei auf dem Weg zu seinem Landgut von Mördern angefallen worden, die der Adel ge- dungen hätte. Der Zweck, das Volk gegen die Aristokraten aufzuwiegeln, wurde erreicht. Die schleunigst einberufene Volksversammlung ge stattete Peisistratos trotz Solons Warnung, eine Leibwache anzuwerben. Kurz darauf besetzte der Führer mit seiner bewaffneten Schar die Akropolis und rief die Alleinherrschaft aus. Erst jetzt traten Gegner auf, und der Tyrann musste vorübergehend ins Ausland fliehen. Doch mit einer fremden Söldnertruppe kehrte er zurück und setzte sich gegen den Widerstand durch. Solons Verfassung liess er der Form nach bestehen, besetzte aber alle Ämter und Behörden mit seinen Verwandten und Freunden. – Der greise Solon, dessen Lebenswerk gescheitert schien, verliess die Heimat endgültig und starb bei einem befreundeten Fürsten auf Zypern.

     Peisistratos gewann die Zuneigung seiner Mitbürger, indem er viel zur Förderung des ganzen Landes unternahm und Arbeitsplätze schuf. Er verteilte Staatsgüter unter die Armen, verbesserte die Schlagkraft des Heeres, baute die Flotte aus, befestigte den Hafen von Munychia, legte neue Strassen an und besetzte wichtige Plätze an der makedonischen Küste und am Hellespont.

     Besondere Gunst erwies Peisistratos der Stadt Athen. Er berief Künstler aus dem ostionischen Raum zu Lehrmeistern und liess sie prächtige öffentliche Bauten gestalten. Sie verwandelten die planlos gewachsene Stadt in eine schöne, geschlos-sene Anlage.

     Am Südhang des Burgberges entstand der Tempel des Dionysos Eleuthereus mit einer Orchestra. Hier führte der milde Tyrann im Jahre 534 v. Chr. die kultischen Feierlichkeiten der Grossen Dionysien ein .

     Auch das der Pallas Athene gewidmete Nationalfest der Panathenäen wurde aufgewertet. Die Reichen trugen die Kosten, die Armen durften den Spielen und Vorführungen umsonst beiwohnen.

     Nach dem Tode des Peisistratos übernahmen seine beiden Söhne Hippias und Hipparchos die Regierung und führten sie klug und mass voll. Dennoch rückte das Ende der Tyrannis heran. Eines Tages wurde Hipparchos von Verschwörern ermor-det. Hippias konnte entkommen, liess die Mörder hinrichten und herrschte fortan als Tyrann im schlimmen Sinne, mit Gewalt und Schrecken. Das Volk rief nach Freiheit, und das Adelsgeschlecht der Alkmeoniden erreichte mit Hilfe der delphischen Priesterschaft, dass spartanische Truppen Athen besetzten und Hippias in der Burg einschlossen. Der Regent entsagte der Macht gegen freien Abzug und floh zu den Persern.

Der Adel, der zum Sturz der Tyrannis entscheidend beigetragen hatte, suchte nun seine frühere Macht zurückzuerobern. Doch der Alkmeonide Kleisthenes trat falschen Hoffnungen mit der Warnung entgegen, dass Rückschritte in vergangene Verhältnisse zu einem Bürgerkrieg führen müssten. Er bat das Volk um Unter-stützung für seinen Plan, die solonische Verfassung zu einer demokratischen weiter-zuentwickeln. Die Bürgerschaft scharte sich um den hochherzigen Edelmann. Sparta, das sich berufen fühlte, die Interessen der Aristokratie zu schützen, wollte einschrei-ten, wurde aber gründlich abgewiesen und räumte darauf Athen. Kleisthenes aber übernahm die Führung im Lande.

        So konnte er denn 508 v. Chr. seine Verfassungsreform in Angriff nehmen.

Es galt, die Macht des Adels endgültig zu brechen, den Gegensatz der drei Interessengruppen (Grundherren, Küstenbewohner, Bergbauern) auszuschalten und die überkommene Gliederung des Volkes in vier Stämme zu überbrücken, um der Stimme des Einzelnen gegenüber Blut und Besitz Geltung zu verschaffen.

      Kleisthenes teilte das Volk in 100 sich selbst verwaltende Demen (Gemeinden) ein, die unter der Leitung von Bürgermeistern standen und Register mit den Namen ihrer Bürger führten. Die Gemeinden wurden zu Gruppen zusammengefasst, und zwar so, dass die drei Regionen Stadt, Binnenland und Küste je zehn Gruppen bildeten.

Das Los führte dann je eine Gruppe aus den drei Regionen zu einem Bezirk zusam-men, der den Namen «Phyle» erhielt. Die 10 Phylen stellten je einen Feldherrn und entsandten je 50 durch das Los bestimmte Vertreter in den Rat der Fünfhundert (Bulé), der den solonischen «Rat der Vierhundert» ablöste.

      Kleisthenes erhob die Bule zur eigentlichen Regierung und erniedrigte die nun-mehr 10 Archonten zu Richtern. Der Rat hatte nicht nur «alle Anträge durchzube-raten, welche vor die Volksversammlung kamen; er sollte auch für die Ausführung der Gesetze und sonstigen Volksbeschlüsse sorgen. Daher musste zur Erledigung der laufenden Geschäfte beständig ein Ausschuss in Athen anwesend sein, und zwar je die fünfzig Vertreter einer Phyle während des zehntenTeiles des Amtsjahres. Die Fünfzig hiessen dann Prytanen (Vorsteher) und speisten gemeinsam auf Staatskosten im Rathaus.» 

      An der Volksversammlung durften alle über zwanzig Jahre alten, freien Bürger teilnehmen. Sie machten von ihrem aktiven und passiven Wahlrecht (dem Recht,

zu wählen und gewählt zu werden) Gebrauch und entschieden über Krieg und Frieden, Bündnisse, Gesetze und Steuern. – Auch in den Volksgerichtshöfen urteilte das Volk. – Um einem Rückfall in die Tyrannis vorzubeugen, schuf Kleisthenes die Einrichtung des Scherbengerichtes. Alljährlich konnten die Mitglieder der Volks-versammlung die Namen von Persönlichkeiten, die ihnen übermächtig zu werden schienen, auf Tonscherben kratzen und diese als geheime Stimmen abgeben. Wer besonders häufig genannt wurde, musste das Land für zehn Jahre verlassen, ohne jedoch Ehre oder Vermögen zu verlieren.

        Die Vorrechte aufgrund des Blutes oder Vermögens waren aufgehoben. Das freie Volk (der Demos) regierte sich selbst; Attika hatte die Demokratie geboren. was noch fehlte, die Befreiung aller Sklaven und die Anerkennung der Frauen, wurde im Altertum nicht mehr erreicht. Dennoch bedeutete das neue attische Staatsgebilde eine bahnbrechende Errungenschaft. Nie und nirgends zuvor hatte es Ähnliches gegeben. Athen war der Umwelt in der Entwicklung der freien Persönlichkeit vorangeschritten. Da aber nahte auch schon die Zeit, in der Griechenland unter Anspannung aller Kräfte mit dem Orient um seine Freiheit und Eigenheit zu ringen hatte.

 

Sparta und Athen

Das erstarkende Sparta dehnte seinen Einfluß auf die Gemeinden des nördlichen Peloponnes aus, indem es den Peloponnesischen Bund gründete. Die Bundesgenos-sen behielten ihre Selbständigkeit, unterstanden aber im Kriegsfalle dem Oberkom-mando Spartas.

     Eine Rivalin erwuchs Sparta in Athen. Hier sammelten und entfalteten sich die vorwärtsdrängenden geistigen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte.

     Es kam darauf an, daß sich die beiden wichtigsten Städte des Mutterlandes zur Abwehr zusammenfanden; denn im Osten und Westen erweiterten Perser und Karthager ihre Reiche und rückten bedrohlich an die griechischen Siedlungsgebiete heran.

Karthago

Die Phönizier, ein semitisches Seefahrervolk an der syrischen Küste, hatten um 800 v. Chr. in Nordafrika, beim heutigen Tunis, die Stadt Karthago angelegt. Sie wurde reich und mächtig, besetzte den Westen Siziliens und wartete auf eine passende Gelegenheit, um auf der fruchtbaren Insel weiter vorzustoßen. Die eingewanderten Griechen rauften sich im Osten notgedrungen zu einer festen Abwehrfront zusam-men.

Persien

Die grösste Gefahr erwuchs den Hellenen indessen im Orient. Hatten die Griechen Kleinasiens ihre Freiheit zunächst an Lydien verloren, so unterlag dessen letzter König 546 v. Chr. dem Perser Kyros dem Älteren. Dieser unterwarf auch die griechischen Küstenstädte.

     Kyros eroberte ein Grossreich, das ganz Vorderasien bis an die Grenze Indiens umfasste. Sein Sohn Kambysesunterwarf 525 v. Chr. Aegypten. Dessen Nachfolger Dareios unterteilte den ungeheuren Staat in 20 Bezirke (Satrapien) und setzte zu deren Verwaltung Vizekönige ein. Die Bezirke mußten die Kosten für ihre Verwaltung selbst aufbringen und darüber hinaus noch beträchtliche Summen an den Hof des Großkönig abführen. Der Großkönig residierte ab wechselnd in Susa, Babylon, Ekbatana und Persepolis. Diese Hauptstädte waren durch gute Strassen untereinander und mit den Provinzen verbunden, auf denen Reiter und Läufer den staatlichen Verkehr besorgten.

     Wie alle Orientalen kannten auch die Perser keine Freiheit des Einzelnen. Alle Untertanen und Beamten hingen von der Gunst und Laune des Herrschers ab. Man schmeichelte und huldigte ihm unterwürfig und erhob ihn zum Beauftragten der Götter.

     Zur Sicherung der persischen Nordgrenze rückte Dareios mit grosser Heeresmacht über die europäische Schwarzmeerküste gegen die nomadisierenden Skythen vor. Sein Versuch, sie zu einer Entscheidung zu zwingen, misslang, und er musste den Rückzug in die Heimat antreten. Doch liess er starke Besatzungen in Thrakien zurück, dehnte seine Macht südwärts bis Makedonien aus und fasste so in Europa festen Fuss.

Der ionische Aufstand

Die kleinasiatischen Griechen, die sich vor der persischen Zeit einer hohen kultu-rellen Blüte und eines materiellen Wohlstands erfreut hatten, mussten ihren orien-talischen Herren nun Steuern zahlen und Kriegsdienste leisten. Neidisch schauten sie auf die grossen Fortschritte Athens hin zur Demokratie. Die persische Regierung verfolgte mit grosser Aufmerksamkeit die steigende Unzufriedenheit in den ioni-schen Städten. Eines Tages erhob sich Milet und erklärte sich selbständig. Bald folgten diesem Beispiel weitere Griechenstädte Kleinasiens. Sie vertrieben die fremden Herren und setzten Volksregierungen ein. Das Mutterland wurde um Unterstützung gebeten. Athen und Eretria kamen zu Hilfe. Doch wurden die Hellenen nach einigen Jahren planloser Gegenwehr von der persischen Übermacht vernichtend geschlagen. Milet, die mächtigste Stadt Ioniens, wurde für immer zerstört. Diese Nachricht wirkte so erschütternd auf die anderen griechischen Kolonien, dass sich auch die letzten Aufständischen ergaben.

Der erste Perserkrieg; Marathon

Nachdem Kleinasien zum Gehorsam zurückgebracht war, sandte Dareios eine grosse Armee nach Europa hinüber, um die Makedonier zu zügeln und das griechische Mutterland selbst anzugreifen. 490 v. Chr. lief eine mächtige persische Flotte Eretria auf Euböa an. Die Stadt wurde zur Strafe für ihre Einmischung in den ionischen Aufstand zerstört. Darauf segelte das orientalische Geschwader gegen Attika. Als Wegweiser diente Hippias, der einstige Tyrann von Athen, der seine verlorene Macht mit fremder Hilfe zurückzugewinnen hoffte. Er riet zur Landung an der Ostküste Attikas bei der Ebene von Marathon.

     Das anrückende Heer war für Attika mit seinen wenigen Tausenden tapferer Krieger ein übermächtiger Gegner. Sparta versprach Hilfe, erwartete aber aus religiösen Gründen erst den Vollmond ab. Theben stand feindlich abseits. Nur das böotische Landstädtchen Platää leistete mit tausend Hopliten Waffenhilfe.

     Im attischen Kriegsrat trat Miltiades mit grosser Überzeugungskraft auf. Da er die Perser und ihre Kampfweise kannte, übertrugen ihm die andern Strategen den Oberbefehl. Auf seinen Rat beschlossen die Athener, sich nicht hinter der Festungs-mauer zu verschanzen, sondern dem Feind entgegenzugehen. Bei Marathon stiessen sie auf dessen weites Lager und eine unabsehbare Reihe von Schiffen. «Den Angriff eröffneten wahrscheinlich die Perser; denn ihnen musste daran liegen, zu einer Entscheidung zu kommen, bevor spartanische Verstärkungen anmarschierten. Um die Flanken nicht zu gefährden, stellte Miltiades seine Leute in gleich breiter Front auf wie die Perser; die Flügel erhielten normale Tiefe, was nur auf Kosten des Zentrums geschehen konnte. Die Hauptwaffen des Persers, Pfeil und Bogen, leisteten im Fernkampf treffliche Dienste, während der griechische Hoplit ganz auf den Nahkampf eingestellt war. Dadurch, dass nun Miltiades seine Mannschaft im Laufschritt an den Gegner heranführte, verkürzte er die Wirkung des persischen Pfeilhagels und hatte die Griechen sofort im Handgemenge, wo sie durchaus überle-gen waren. Wohl durchstiessen die Perser die wenig tief gegliederte Mitte der feindlichen Front; sie gerieten dabei nur in die Umklammerung der beiden Flügel und wurden in hartem Ringen an die Küste gedrängt, wo ein erbitterter Kampf um die Schiffe folgte. Zuletzt gelang es ihnen, aufs Meer zu entkommen, aber das reiche Lager samt den Pferden blieb in den Händen des Siegers (Sept. 490). Ein Bote eilte nach Athen und legte dle 42 km lange Strecke so schnell zurück, dass er am Ziele tot zusammenbrach».

      Nach dieser Niederlage segelten die Perser um das Kap Sunion, um die Stadt Athen zu überfallen. Als aber Miltiades mit seinen Soldaten rechtzeitig zur Vertei-digung erschien, unterliessen sie die Landung und kehrten nach Asien zurück. Hilfstruppen aus Sparta kamen eben recht, um Zeugen des Triumphes zu werden.

      Nach dem Siege von Marathon genoss Miltiades das unbegrenzte Vertrauen seiner Mitbürger. Er erhielt die Mittel zur Rückeroberung verloren gegangener ägäischer Inseln. Ein Fehler bei der Belagerung von Paros reichte jedoch aus, dass er in Ungnade fiel. Man verurteilte ihn zu einer unerhört hohen Geldbusse; er aber starb bald darauf.

Neue Rüstungen

Nach dem Tode des Miltiades kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Aristeides und Themistokles, die das Wohl des Vaterlandes auf verschiedenen Wegen suchten. Aristeides, ein gerader, aber konservativer Adliger, glaubte ohne grosse Neuerungen auskommen zu können und wollte am attischen Landheer festhalten, das sich bei Marathon bewährt hatte. Themistokles dagegen, ein scharf blickender Draufgänger, trat für den Aufbau einer modernen und schlagkräftigen Flotte ein. Anders als seine Mitbürger rechnete er mit einem zweiten persischen Angriff und war überzeugt, dass Griechenland der feindlichen Übermacht nur zur See die Stirn bieten könne. Mit klaren, einleuchtenden Reden brachte er die Mehrheit der Volksversammlung auf seine Seite. Aristeides, der als Hindernis er schien, wurde durch das Scherbengericht für zehn Jahre aus der Heimat verbannt.

     Ein glücklicher Zufall begünstigte Attikas grosszügige Pläne. Im Gebirge Laurion fanden sich neue Silbergruben. Themistokles’Antrag, den Erlös für den Bau einer Flotte von hundert Dreideckern zu verwenden, wurde angenommen.

     Eifrig ging man ans Werk, erstellte Schiffe, Werften und Zeughäuser. Der Hafen Piräus wurde ausgebaut und befestigt. Die Wehrpflicht wurde auf die bisher militär-freie vierte Vermögensklasse ausgedehnt. Die besitzlose Masse der athenischen Bevölkerung (die Theten), die Halbfreien (Metöken) und verlässliche Sklaven leisteten Ruderdienste. In wenigen Jahren stieg Athen zur grössten Seemacht Grie-chenlands auf.

      Zehn Jahre insgesamt konnten die Griechen zur Aufrüstung nützen. Dareios musste von einem zweiten Angriff absehen; er  wurde Unruhen in Aegypten und Babylonien in Anspruch genommen und starb schliesslich. Sein Sohn und Nach-folger Xerxes schlug die Aufstände mit blutiger Strenge nieder und bereitete sich dann in vier Jahren auf einen neuerlichen Feldzug gegen die freiheitlich gesinnten Europäer vor. Landheer und Flotte sollten gemeinsam vorgehen, um Hellas zu unterwerfen  und dem Riesenreiche als Provinz einzuverleiben.

     Aus verschiedensten Gegenden des Morgenlandes strömten Fusssoldaten, Reiter, Streitwagenlenker, Elephantenführer usw. auf dem Sammelplatze in Kleinasien zusammen, vielsprachig und je nach Landesweise gekleidet. Die bezwungenen Phönizier und Ionier hatten Schiffe zu stellen. Karthago wurde aufgefordert, die Griechen Siziliens zu überfallen. Im Frühjahr 480 v. Chr. erreichte die Riesenarmee den Hellespont und über eine Schiffsbrücke europäischen Boden. Etwa 100000 Kämpfer mit zahlreichem Tross und tausend Schiffe bewegten sich auf das kleine Griechenland zu.

Der zweite Perserkrieg; Thermopylen, Salamis, Platää, Mykale

Die Nachricht von der Wiederkehr des asiatischen Riesen liess viele Hellenen verzagen. Das delphische Orakel erklärte jeden Widerstand für aussichtslos. Nur Athen verstand zu handeln. Es regte eine Versammlung sämtlicher Griechenstaaten an, auf der eine gemeinsame Verteidigung geplant werden sollte. Der spartanischen Einladung auf den Isthmos folgten aber nur die Mitglieder des Peloponnesischen Bundes, Athen, einige Kykladen und zwei Städte Mittelgriechenlands. Auf Themisto-kles› Antrag beschloss man, die innergriechischen Streitigkeiten zurückzustellen, um mit vereinten Kräften dem äusseren Feind entgegenzutreten. Sparta und seine Verbündeten übernahmen die Abwehr zu Lande; Athen konzentrierte sich auf den Seekrieg. Obwohl Sparta zur hellenischen Flotte ganze zehn Schiffe beisteuerte, beanspruchte es auch den Oberbefehl zur See. Athen gab nach, um die Rettung des Vaterlandes nicht zu gefährden.

     Noch einmal ergingen an alle Hellenen Aufrufe zur Waffenhilfe, doch sie verhallten wirkungslos. Die Städte Siziliens erwarteten einen Angriff der Karthager, andere Gemeinden antworteten mit leeren Versprechungen oder gar schroffer Ab-lehnung. Trotz diesen Enttäuschungen  blieben  die  auf  dem  Isthmos vertretenen Staaten bei dem Entschlusse, ihre in der alten Welt einmalige Freiheit bis zum Äussersten gegen den orientalischen Despoten und seine Untertanen zu vertei-digen.

     «Sobald sich im Frühjahr 480 Xerxes mit seiner Armee von Sardes aus in Bewegung setzte, schickte der in Korinth versammelte Kriegsrat der Hellenen Trup-pen nach Thessalien, um das Einfallstor nach Griechenland, das Tempetal, zu sperren. Als jedoch die voraus gesandten Boten des Grosskönigs erschienen, um Erde und Wasser als Zeichen der Unterwerfung zu verlangen, fielen die Thessaler vor den Augen des hellenischen Heeres zum Feind ab. Da blieb nichts anderes übrig, als Nordgriechenland seinem Schicksal zu überlassen und wenigstens den Zugang nach Mittelgriechenland zu verrammeln. Der spartanische König Leonidas stellte sich am Engpass der Thermopylen, zwischen Oetagebirge und Meer, mit 7000 Schwerbe-waffneten, darunter 300 Spartiaten, auf. Während gleichzeitig in der Meerenge zwischen Euböa und Thessalien, am Kap Artemision, die beiden Flotten aufeinander trafen, suchte sich das persische Landheer in den Thermopylen den Durchgang zu erzwingen. Aber was half ihm seine Masse in dem schmalen Pass! Wie eine Mauer stand Leonidas zwei Tage lang mit seinen Leuten … .Da übte ein Bauer aus der Nach-barschaft Verrat und führte in der zweiten Nacht einen Teil der Perser auf einem verborgenen Fusspfad über das Gebirge, den Griechen in den Rücken. … Als Leonidas beim Morgengrauen die Nachricht erhielt, dass seine Umzingelung bevorstehe, entliess er die Verbündeten, damit sie dem unvermeidlichen Verderben entrinnen könnten. Er selber und die drei hundert Spartiaten blieben auf ihrem Posten, um den Rückzug der übrigen zu decken. Auch siebenhundert Böoter … harrten aus. Gegen Mittag war ihre Einschliessung vollendet, und wie Löwen kämpften sie den aussichtslosen Kampf durch, bis der letzte den Todesstreich empfangen hatte. Dieses Beispiel grossartigster Opferwilligkeit und unbedingter Pflichterfüllung hat auf alle späteren Geschlechter tiefen Eindruck gemacht. Auf dem Grabmal, das man der Heldenschar an Ort und Stelle setzte, war zu lesen:

     ‹Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest

          Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.› «

     Das persische Landheer hatte mit seinem Sieg bei den Thermopylen das Tor zum griechischen Kernland aufgestossen; ungehindert rückte es gegen Attika vor. Die peloponnesischen Truppen zogen sich auf die Isthmos-Landenge zurück, um hier ihre engere Heimat zu verteidigen. Die hellenische Flotte, die sich beim Kap Arte-mision mit der feindlichen Übermacht unentschieden geschlagen hatte, segelte zur Deckung Athens  in den Saronischen Golf und ging in der Bucht von Eleusis, hinter der Insel Salamis, vor Anker. Themistokles verkündigte den verängstigten Athenern einen delphischen Orakelspruch, der ihnen Schutz hinter hölzernen Mauern versprach. Er deutete ihn dahingehend, dass die wehrfähigen Männer sich auf ihrer wohlgerüsteten, hölzernen Flotte zum Kampf stellen sollten. Dankbar griff die Bevölkerung seine Idee auf. Frauen, Kinder und Greise begaben sich auf die Insel Salamis und den Peloponnes in Sicherheit; die Männer gingen an Bord der Kriegsschiffe. Die verlassene Stadt Athen fiel den Orientalen zum Opfer, die sie restlos vernichteten. Von den Schiffen aus sah man Flammen und Rauchsäulen aufsteigen.  Als nun obendrein die persische Flotte in endlosem Zuge heranglitt, wurde die Lage trostlos. Themistokles aber, ein fester Fels im Sturm der Ereignisse, erkannte, dass dem Gegner die Überzahl seiner Schiffe in der engen Bucht von Eleusis nichts nützen konnte und dem nach die Schlacht hier eröffnet werden mus-ste. In der Nacht besetzten die Perser die beiden schmalen Wasserstrassen zwischen Festland und Insel, um die griechische Flotte einzuschliessen. Bei Tagesanbruch griffen die Hellenen die Sperrlinie an und versenkten in wilden Kämpfen ein feindliches Schiff nach dem andern. Bis zum Abend war der Sieg errungen. Xerxes, der sich von einer Anhöhe aus am Untergang der eigenwilligen Europäer hatte weiden wollen, musste den Rest seiner Flotte nach Hause schicken und selber nach Kleinasien zurückkehren. Ein Teil seiner Landarmee aber bezog in Thessalien Winterquartier.

     Da Attika mehrere verlockende Bündnisangebote ausschlug, marschierte das gestraffte Perserheer im Frühjahr 479 v. Chr. noch einmal nach Süden. Die Athener wichen wie im Vorjahr nach Salamis und auf die Schiffe aus und riefen die Peloponnesier zu Hilfe. Während Sparta zunächst zögerte, erreichte der Feind die den Winter über notdürftig wiederhergestellte attische Hauptstadt und machte sie erneut dem Erdboden gleich. Als endlich die Peloponnesier an rückten, zogen sich die Fremden nach Böotien zurück. In der Ebene von Platää, die ihnen für ihre Reiterei geeignet schien, unter stützt von Thebanern und Thessalern, stellten sie sich zum Kampf. Die Peloponnesier und attischen Hopliten aber, die dem Gegner gefolgt waren, gewannen in der Schlacht trotz ungünstiger Stellung die Oberhand. Der persische Heerführer fand den Tod, und seine Truppen flohen heimwärts.

     Kurz auf den Landsieg bei Platää folgte der grosse Erfolg zur See. Ein hellenisches Ceschwader stiess bei Mykale, Samos gegenüber, auf die Reste der persischen Reichsflotte. Die Wachen wurden vertrieben, die Schiffe in Brand gesteckt. In der Folge schlossen sich die Griechen Kieinasiens dem Kampf gegen ihre Bedrücker an.

Die Entscheidung im Westen

In Sizilien hatte der energische Tyrann Gelon der Stadt Syrakus zu Grösse und Macht verholfen. Ihr unterstanden eine Reihe von griechischen und alten sikulischen Siedlungen. Gelon und sein Schwiegervater Theron, der Tyrann von Akragas, beherrschten zusammen fast das ganze hellenische Sizilien. Daher richtete das Mutterland beim Ausbruch des zweiten Perserkrieges einen Hilferuf an die beiden Machthaber. Sie konnten ihm aber nicht Folge leisten, da sie ihre Heimat verteidigen mussten. Ermuntert durch die Perser, marschierten die Karthager, die im Westen der Insel bereits Fuss gefasst hatten, gegen Theron und schlossen ihn ein. Gelon aber warf mit seinen Truppen – im Jahre der Seeschlacht von Salamis – den Feind zurück. Gelons Bruder und Nachfolger Hieron unterstützte einige Jahre später die Bewohner Unteritaliens im Kampf gegen die Etrusker. Deren Flotte wurde vernichtet, und die Vorherrschaft zur See ging an Syrakus über.

Der Delisch-Attische Bund

Aus der schweren Auseinandersetzung zwischen Abend- und Morgenland, zwischen den frei denkenden und handelnden Bürgern der Poleis und den Untertanen eines Gewaltherrschers, waren die Griechen als Sieger hervorgegangen. Kaum war der äussere Feind abgewehrt, brachen die alten Bruderzwiste wieder auf. Die Kraft, die Athen im Krieg bewiesen hatte, weckte vielerorts Missgunst. Als die Athener sich an den Wiederaufbau ihrer zerstörten Stadt machten, erhob Sparta mit einer fadenschei-nigen Begründung Einspruch gegen die Errichtung einer Befestigungsmauer; in Wirklichkeit strebte es die Vorherrschaft in Hellas an und fürchtete dabei die attische Konkurrenz. Themistokles aber zog die Verhandlungen so lange hinaus, bis die Bauarbeiten weit genug fortgeschritten waren. Er veranlasste den Ausbau des Hafens Piräus zur stärksten hellenischen Seefestung und deren Verbindung mit der Haupt-stadt durch die Verteidigungsanlage der «Langen Mauern».

     Meinungsverschiedenheiten gab es zwischen Sparta und Athen auch über die künftige Verteidigung Griechenlands. Die Lakedaimonier, die nach den Siegen über die Perser für sich selber keine Gefahr mehr sahen, mochten eine gesamtgriechische Sicherheitspolitik nicht mehr mittragen. Die Athener dagegen waren entschlossen, die Unabhängigkeit aller, auch der kleinasiatischen Griechen zu garantieren.

Als schliesslich der Athener Aristeides, der zum Kampf gegen die Perser aus der Verbannung zurückgerufen worden war, zum Flottenkommandanten gewählt wurde und Sparta dadurch den Oberbefehl zur See verlor, zog es sich mit seinen Verbündeten auf den Peloponnes zurück und beteiligte sich nicht mehr an einer gemeinsamen Abwehr.

     Wenn auch Persien nach seinen Niederlagen geschwächt dastand, konnten sich doch die Hellenen der Inseln und Küsten nicht sicher fühlen, denn an einen Friedensvertrag war vorderhand nicht zu denken. Daher schlossen sich im Jahre 477 v. Chr., auf Initiative des Aristeides, mehr als 200 griechische Städte mit Athen zum Delisch Attischen Bund zusammen. Athen übernahm die Führung und die Ver- waltung der Bundeskasse, die zunächst im Apollontempel zu Delos verwahrt wurde. Auf der Insel trat auch der Bundesrat zusammen. Die Mitglieder hatten Mannschaft und Schiffe zu stellen und jährlich bestimmte Beträge an die Bundeskasse zu zahlen.

     Sparta sah seine Pläne, eine Vormachtstellung in Hellas aufzubauen, durch die Gründung der neuen Vereinigung durchkreuzt. Immer deutlicher trat die Rivalität zwischen dem zurückbleibenden Bund der Peloponnesier und dem fortschreitenden Seebündnis zutage. Das intellektuell und künstlerisch begabte, bewegliche und vorwärts drängende Athen gewann die Oberhand; es erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung und einen gewaltigen Machtzuwachs. Der Hauptstadt des Delisch-Attischen Bundes fiel ganz selbstverständlich die Führerrolle zu, die Sparta erstrebt hatte.

     In Attika entbrannte ein heftiger Parteienstreit über die künftige Haltung gegen-über Sparta. Während Themistokles in Lakedaimon einen gefährlichen Gegner erblickte, profilierte sich Miltiades› Sohn, der konservative Militär Rimon, als Sparta-nerfreund. Im Verein mit der attischen Oberschicht, die Sparta als Hort der Aristo-kratie schätzte, erreichte er, dass das Scherbengericht den Helden der Perserkriege nach Argos verbannte. Auf spartanische Anschuldigung hin wurde Themistokles dann in Abwesenheit wegen an geblichen Hochverrates auch noch zum Tode verurteilt. «Jetzt erlebte Griechenland das unwürdige Schauspiel, dass der Retter seiner Unabhängigkeit einem gemeinen Verbrecher gleich durch athenische und spartanische Gesandte, die seine Auslieferung verlangten, von einer Stadt zur andern gehetzt wurde, bis ihm nichts mehr übrig blieb, als zu den Persern zu fliehen. Artaxerxes, der Sohn und Nachfolger des Xerxes, nahm den Sieger von Salamis grossmütig auf und verlieh ihm drei Städte in Kleinasien als Fürstentum. Dort lebte Themistokles noch einige Jahre.»

     Nach der Ausschaltung des Themistokles und dem Tode Aristeidesl ging Kimon, als neuer Führer Athens, mit der inzwischen beträchtlich erweiterten Flotte des Seebundes zum Angriffskrieg gegen Persien über. Er schlug den Feind im Jahre 466 v. Chr. an der Südküste Kleinasiens zur See und zu Lande vernichtend, worauf dieser die klein asiatische Küste räumte. Sämtliche Hellenen waren nun frei, und die Furcht vor dem Orient verflog.

     Das sich ausbreitende Gefühl der Sicherheit liess hier und da das Interesse am Delisch-Attischen Bund erlahmen. Manche Mitglieder suchten sich ihren Verpflich-tungen zu entziehen oder ganz abzufallen. Athen jedoch unterwarf die Abtrünnigen mit Gewalt, hob ihre Unabhängigkeit auf und machte sie zu abgabepflichtigen Untertanen. Andere Bundesgenossen befreiten sich von direkten Kriegsdiensten durch freiwillige Ersatzzahlungen. Je mehr Athen die Sicherheit im ägäischen Raum im Alleingang gewährleistete, desto grösser wurde seine Entscheidungsfreiheit. Schritt für Schritt verwandelte sich der Bund in ein Reich, in dem Athen befahl.

     Sparta rüstete insgeheim auf und plante einen Überfall auf Athen. Da wurde es unversehens von einem schweren Erdbeben verheert. Die Heloten in Lakonien und Messenien nützten die Verwirrung nach der Naturkatastrophe und erhoben sich. Die Spartaner sahen keinen anderen Ausweg, als Attika um Hilfe zu bitten. Kimon verstand seine Mitbürger so geschickt zu bearbeiten, dass sie ihn mit 4000 Hopliten ziehen liessen. Ais aber auch diese Hilfstruppen die Aufständischen nicht bezwingen konnten, verlangte Sparta ihren Rückzug. Jeder Athener, ob Aristokrat oder Demokrat, empfand diese Heimsendung als eine entehrende Schmach. Der allgemeine Unwille richtete sich gegen Kimon. Er wurde durch das Scherbengericht aus der Heimat ver bannt, nach fünf Jahren aber schon wieder zurückgerufen, damit er sich um einen Frieden mit Sparta bemühe.

Die Ausgestaltung der Demokratie unter Perikles

Kimon, dem Haupte des attischen Adels, erwuchs ein Gegenspieler in Perikles, unter dem Athen seine kulturelle, wirtschaftliche und politische Blüte entfalten sollte. Während der Schwangerschaft träumte seine Mutter, eine Nichte des Alkmeoniden Kleisthenes, sie habe einen Löwen geboren. Man verstand diesen Traum als einen Hinweis auf die künftige Grösse des Sohnes und liess ihm deshalb eine besonders sorgfältige, vielseitige Erziehung angedeihen. Bedeutende Lehrer, darunter der Den-ker Anaxagoras und der Bildhauer Pheidias,  unterrichteten ihn in Philosophie, Literatur, Kunst, Musik, Wirtschaft und Politik. Zur körperlichen Ertüchtigung schickte man ihn in die Gymnasien, wo er sich, wie seine Altersgenossen, in den ver- schiedenen Sportarten übte. Als Zwanzigjähriger erfuhr Perikles vom Erfolg seines Vaters, der bei Mykale als Flottenführer an der Vernichtung persischer Kriegsschiffe teilgenommen hatte.

     Perikles reifte zu einem würdigen, besonnenen Mann heran. Gewöhnlichen Vergnügungen blieb er fern. Mit der unerschütterlichen  Ruhe eines Weisen verband er eine beeindruckende Beredsamkeit, die er sparsam, aber desto wirkungsvoller einzusetzen wusste. Er stellte sich an die Spitze der Demokraten und verhalf ihnen zu Ansehen und Einfluss. In einer Rede, die uns der Geschichtsschreiber Thukydides überliefert hat, umriss Perikles sein Ideal vom Volksstaat: «Die Demokratie darf die Staatsmacht nicht einer Minderheit, sondern nur dem ganzen Volke anvertrauen. Die Gleichheit aller vor dem Gesetze bedingt, dass alle Mitbürger die gleichen Rechte geniessen, dass kein Volksteil seine Sonderinteressen auf Kosten der übrigen Bürger durchzusetzen versucht.» Perikles› Ziel einer vollkommenen Demokratie liess sich in der Antike noch nicht erreichen; die Sklaven blieben rechtlos. Immerhin wurden immer weitere Bevölkerungskreise in die Gestaltung des öffentlichen Lebens einbe-zogen.

     Schon Aristeides hatte die Armen für ihre militärischen Ruder dienste dadurch belohnt, dass er der vierten Vermögensklasse der Theten (Arbeiter) die Wählbarkeit für staatliche Aemter gewährte. Seit da konnte jeder freie Athener ohne Rücksicht auf Abstammung oder Vermögen mit Regierungsaufgaben betraut werden. Ämter, die keine besonderen Fähigkeiten voraussetzten, wurden unter den Bewerbern verlost. Die zehn Strategen wurden durch Wahl bestimmt. Perikles führte eine mässige Amtsbesoldung ein, um auch den Ärmsten tatsächlich zu ermöglichen, auf den unmittelbaren Broterwerb zu verzichten und sich als Ratsherren, Richter und sonstige Beamte dem Dienst am Staate zu widmen.

     Gegen den Willen Kimons verschafften Perikles und die Demokraten der Stimme des Volkes dadurch mehr Geltung, dass sie die Macht der letzten Entscheidung, die bisher beim Areopag gelegen hatte, auf den Rat der Fünfhundert und die Volksver-sammlung übertrugen. Dem Areopag blieben fortan nur noch die Blutgerichtsbarkeit und gottesdienstliche Aufgaben.

     In den Perserkriegen hatten die zehn Strategenämter an Bedeutung gewonnen; wer als Offizier zum Strategen bestellt wurde, gestaltete auch das öffentliche Leben mit. Miltiades, Themistokles, Aristeides, Kimon und Perikles bestimmten als Strate-gen die attische Politik.  Während andere Staatsstellen jährlich neu verlost wurden und ihre Besetzungen wechselten – was diktatorischen Bestrebungen den Boden entziehen sollte -, konnten die Strategen wiedergewählt werden. So vertraute die Bürgerschaft dem untadelig pflichtbewussten Perikles die Oberstrategie Jahr für Jahr neu an. Nie nützte er seine Erfahrung, die ihm ein Übergewicht über die wechseln-den Beamten gab, für eigene Zwecke aus, nie regierte er selbstherrlich. Durch reine Hingabe an das Gemeinwohl, seine staatsmännische Einsicht und militärische Tüchtigkeit erwarb er sich die Gunst des Volkes immer wieder neu und führte Athen unangefochten durch seine Glanzzeit.

     Attika erlebte unter Perikles einen in Griechenland bisher beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung. Das Grossbürgertum der Schiffsherren, Kaufleute und Handwerker rückte in die Oberschicht der Gesellschaft auf und drängte den Einfluss des Adels zurück. Die staatlichen Einnahmen, die sich aus Zöllen, Hafengebühren, Verkaufssteuern, Leistungen der Reichen, Erträgen der Erzgruben und Tributen der Untertanenstädte zusammensetzten, überwogen immer deutlicher die Ausgaben für Bauten, Besoldungen und Militär.

Der Abschluss der Perserkriege

Die Athener fühlten sich unter Perikles so stark, dass sie den Kampf an mehreren Fronten gleichzeitig wagten. Während sie zu Hause in Auseinandersetzungen mit Peloponnesiern, Korinthern, Aegineten und Böotiern verwickelt wurden, führten sie in der Ferne die letzten Schläge gegen die Perser.

     Im Nildelta unterstützten attische Truppen erfolglos aufständische Ägypter. Beim Angriff auf Zypern hingegen besiegte Athen die Perser zu Land und zur See. Kimon, der den Kriegszug anfangs geleitet hatte, erkrankte während der Eroberung der Insel und starb. Kurz darauf, im Jahre 448 v. Chr., reiste Kallias, der Oberpriester von Eleusis, mit einer attischen Gesandtschaft nach Susa und er reichte einen Friedens-vertrag mit Persien. Artaxerxes verzichtete auf die kleinasiatische Küste, und beide Seiten vereinbarten eine Hoheitsgrenze.

Der Kampf um die Vorherrschaft zu Lande

Dle leidigen innergriechischen Streitigkeiten suchte Perikles mit Vernunft anzuge-hen; ihm schwebte ein Friedensbund sämtlicher Helenen vor. Doch seine Hoffnun-gen zerschlugen sich am Widerstand Spartas, das in Athen nur die Rivalin sehen konnte. Immer bedrohlicher wurden die Spannungen zwischen den beiden Gegnern. Während der Seebund reich und mächtig wurde und auch Teile des Festlandes in seinen Herrschaftsbereich einbinden konnte, bauten die Peloponnesier ein starkes Landheer auf. Vorausschauende Staatsmänner warnten vor einem grossen Bruder-krieg und suchten ihn so lange wie möglich hinauszuschieben.

     Athen geriet mit einzelnen Poleis, die seinem Ausdehnungsdrang ebenso feindlich gegenüberstanden wie Lakedaimon, in bewaffnete Auseinandersetzungen und erfuhr neben Erfolgen auch Schlappen.

     Als die attische Hauptstadt den Höhepunkt ihrer äusseren Macht bereits über-schritten und erste Untertanengebiete aus der Hand hatte geben müssen, kam 446 v. Chr. ein vorläufiger Friede mit Sparta zustande, der sie harte Opfer kostete. Sie musste fast alle Staaten des Festlandes aus ihrer Kontrolle entlassen, ihre Stellungen im Peloponnes und auf dem Isthmos räumen und auf die Vorherrschaft zu Lande verzichten. Dafür anerkannte Sparta den attischen Seebund. Die beiden Mächte kamen überein, sich gegenseitig keine Bundesgenossen abzuwerben. Der Friede hielt zwar nur bis 431 v. Chr., aber in dieser kurzen Zeit entfaltete Athen seine kulturelle Blüte.

     Perikles führte den Seebund jetzt erst recht mit strenger Hand, damit wenigstens die Einheit des ionischen Siedlungsraumes und die Sicherheit der Seefahrt erhalten blieben. Die Bundeskasse wurde von Delos nach Athen verlegt. Bis in die letzten Folgerungen setzte Athen sich als Gebieterin über die ehemals selbständigen Bundes-genossen durch und schuf einen straff gelenkten Zentralstaat. Unglücklicherweise verweigerte die Hauptstadt ihren Untertanen das attische Bürgerrecht und verpasste es so, die einzelnen Teilgebiete durch gleiche Rechte zu einer allseits annehmbaren Gemeinschaft zusammenzufassen. Damit veranlagte sie selbst die Kräfte, die nach Perikles zum Zerfall des Reiches führten. Aber noch hielt dieser die Zügel fest in der Hand. Starke Flottenverbände kreuzten im Aegäischen Meer, zur Übung der Mannschaft und Einschüchterung der Feinde. Abtrünnige Bundesstädte wurden durch Sperrung der Kornzufuhr unerbittlich gefügig gemacht.

 

Nur kurz, aber strahlend erblühte Griechenland zu seinem kulturellen Höhepunkt. Perikles erhob Athen zu Hellas› geistigem Zentrum, indem er die Künste und Wissenschaften förderte.

     Die von den Persern zerstörten Städte Athen und Piräus wurden schön und nützlich wieder aufgebaut. Namhafte Architekten und Künstler gestalteten prächtige Tempel, Theater, Gymnasien und andere Bauten, darunter die Anlagen der Akropolis, deren Ruinen uns heute noch beeindrucken. Für den Fall eines neuen Krieges liess Perikles die schon früher begonnenen «Langen Mauern» erweitern. Die landein wärts liegende Hauptstadt wurde mit den beiden Häfen Piräus und Phaleron durch gewaltige Mauerzüge verbunden. Ferner wurden Arsenale, Werften und Speicher angelegt. So entstand eine riesige Festung, in der im Notfall das ganze Volk von Attika mit Hab und Gut Zuflucht fand.

Der griechische Tempel

Die mykenische Kultur kannte noch kein Gotteshaus. Man erlebte die Götter in der Natur und verehrte sie unter freiem Himmel. Wo das Wesen eines Gottes besonders deutlich wahrgenommen wurde, errichtete man einen Altar für die blutigen Opfer und fasste den Weiheplatz mit einer niedrigen Mauer ein. Später konnte dann ein solcher heiliger Bezirk (Temenos) zusätzlich mit einem Tempel geschmückt werden.

     Die Verbundenheit mit der Umgebung ist dem griechischen Gottes dienst geblieben. Mochte auch ein noch so schöner Tempel im heiligen Bezirk aufgestellt werden, für den Kult erlangte er keine Bedeutung. Die Andächtigen standen im Freien um den nach wie vor offenen Altar, auf dem das Tieropfer, mit dem Rücken zum Tempel, dargebracht wurde. Der Opfernde schaute nach Osten, wie die Statue im Innern des Tempels; beide waren über die Umwelt auf den Gott bezogen, dem das Opfer galt. Das Götterbild mit dem im Umkreis wirkenden, übersinnlichen Wesen zu verwechseln, wäre den Gläubigen nicht eingefallen. Der Unsterbliche wurde draussen in der Landschaft, ja im Kosmos erlebt oder vorgestellt; sein Abbild und das Gottes-haus verstand man als Weihgeschenke, die auf sein Dasein aufmerksam machen und ihm und den Menschen Freude bereiten sollten. Der Kult wendete sich nicht an die Statue, sondern direkt an den in der Umwelt lebenden Gott.

     Ein griechisches Heiligtum steht immer an charakteristischer Stelle in der Land-schaft. Natur und Tempel sind miteinander zu einem Ganzen verbunden.  Dieser Zusammenklang von Landschaft und Heiligtum ist ein Ausdruck für das Gottes-erlebnis des Griechen. Die Götter erscheinen zwar, wenn sie sich dem Menschen offenbaren wollen, in menschlicher Gestalt, aber sie treten immer in der freien Natur auf. … Sie sind in seiner Umgebung anwesend, wandeln und wirken darin, so dass es nur eines erkennenden Sinnes bedarf, sie als solche zu entdecken.  … Bei genauerer Beobachtung ergibt sich, dass die verschiedenen Götter eine ganz intime Beziehung zu einer bestimmten Landschaft haben, die ihrem Wesen entspricht. ‹Die ganze Landschaft ist Gott-erfüllt, und zwar erfüllt von  d e m  Gott, dessen Heiligtum in ihr errichtet ist.› Um das zu verstehen, müssen wir daran denken, dass das Seelenleben des frühen Griechen nicht mit dem unsrigen identisch ist. Er erlebt sich noch ganz ausgebreitet in der Welt, ist noch ausser sich und trennt sein eigenes Innenleben noch nicht von der ihn umgebenden Natur. Dieser Schritt wird erst im Laufe der griechischen Entwicklung vollzogen. … Da sein Wesen noch gar nicht so in sich darinnen war, wie wir das heute als natürliches Erlebnis haben, empfand er in den verschiedenen Landschaften und also auch in seinem Seelenleben die ganz bestimmten Wirkungen der Götter.

Als Kern des Tempels übernahm man das seit frühester mykenischer Zeit in Griechenland heimische Megaron, dieses ursprünglich einräumige, rechteckige Wohnhaus mit dem Eingang an der Schmalseite. Indem man die Längswände vorzog, fügte man dem Hauptraum vorn und oft auch hinten eine offene Vorhalle an, die man durch Säulen leicht von der Umgebung abgrenzte. Später umgab man den Kern (Cella) mit einem Säulenkranz (Peristasis). Damit war das Grundmotiv der griechischen Tempelarchitektur gefunden. Das klassische, von allen Seiten ähnliche, frei dastehende, plastische Kunstwerk nannten die Griechen Peripteros («ringsum beflügelt»). «Das Ausprägen und Auswägen der Spannung zwischen Cella und Peristasis, zwischen geschlossenem, kantigem Kern und durchsichtig gegliedertem Säulenkranz, zwischen Körper und Kleid, ruhendem Zentrum und rhythmischem Reigen, ist fürderhin ihr eigenstes Thema.»

     Die ältesten erhaltenen, geringen Tempelreste stammen aus dem späten 8. Jahr-hundert v. Chr. Damals baute man noch mit Holz, später mit luftgetrockneten Ziegeln. Schliesslich errichtete man die Gotteshäuser kunstvoll aus dem örtlichen Kalkstein oder gar aus Marmor. Im 6. und 5. Jahrhundert beteiligten sich an der Ausgestaltung der Tempel vor allem die Dorier und Ionier. Beide hielten sich in den grossen Zügen an den selben Bauplan. Doch wandelten die Dorier ihn ab zur männ-lichen Variante des dorischen Tempels mit seinen schlichten, klaren, kräftigen, etwas gedrungenen Formen; die Ionier dagegen bevorzugten die weibliche Spielart des ionischen Tempels mit den leichteren, komplizierteren Bildungen.

     Der griechische Tempel, im Grunde genommen einfach, übersichtlich, allseitig durchschaubar gebaut, ist ganz nach aussen gewandt, zur Umgebung hin ausgerichtet. Er birgt kein Geheimnis, das nicht offenbar vor aller Augen läge. Selbst die Cella ist während des Gottesdienstes geöffnet und einsehbar. Der Bau will von aussen angeschaut werden, ist darauf angelegt, dass der Mensch ihm frei gegen überstehe, ihn umschreite, bald näher-, bald zurücktrete, betrachtend, begreifend.

Stellen wir uns in Gedanken einmal vor einen dorischen Tempel hin. Wir sehen ihn getragen von einem dreistufigen Unterbau (Krepis), der ihn aus der irdischen Welt etwas heraushebt und ihn auf eine eigene Grundlage stellt. Auf der obersten Stufe (Stylobat) erheben sich ohne Unterlage die Säulen der Ringhalle. Sie tragen das Gebälk, das aus dem Architrav und dem auf ihm liegenden Fries besteht. Der Architrav ist ein mächtiger Steinbalken, der Säule mit Säule verbindet. Der Fries ist abwechselnd mit senkrecht dreifach gerillten Platten (Triglyphen) und Relieffeldern (Metopen) geschmückt. Auf dem Gebälk liegt das Dach auf, das an den Schmalseiten des Tempels die Giebeldreiecke ausspart.

     «Der Sinn dieses Aufbaus wird erst deutlich durch den plastischen Schmuck an den einzelnen Bauteilen. Am Aussenbau begegnet er uns vor allem in den vollplasti-schen Giebelfiguren. Was da in dem heiligen Dreieck, das schon seit jeher als Symbol des Göttlichen verstanden wurde, an Figurenkompositionen dargestellt wird, ist immer dem Sagenschatz der Götterwelt entnommen. Welcher Mythos … aus der Fülle der Erzählungen ausgewählt und plastisch ausgestaltet wird, hängt ab von der Lage des Heiligtums. … So wie der Giebel als ein Bild der göttlichen Welt erscheint, so ist der Säulenkranz als ein Bild des menschlichen Bereichs aufzufassen. Denn die Säulen repräsentieren Menschen, Menschen, die zusammenstehen und gemeinsam die Götterwelt tragen. … Beide Welten werden durch die ‹Halbgötter› die grossen Heroen der Griechen, vermittelt. Dementsprechend haben die Bilder ihrer Taten ihren Platz zwischen dem Giebel und den Säulen, in den Metopen beim dorischen Tempel oder im Fries beim ionischen Tempel. Der ganze Tempel ist also hierarchisch gegliedert: zuunterst die Menschen, über ihnen die Halbgötter und über diesen die Götter. Nur die Sphäre der Götter wird vollplastisch gebildet, die Heroen in Fries und Metopen werden nur in hohem Relief, die seltenen Darstellungen aus dem menschlichen Bereich in flachem Relief geschaffen. 

In der plastischen Einbindung oder Befreiung vom Hintergrund wird also auch wieder die hierarchische Ordnung der Welt sichtbar: Erst die Götter sind wirklich selbständige Wesen, die Menschen dagegen haben sich noch kaum vom Untergrund abgehoben. Die Heroen nehmen die Mitte ein.»

     Die unteren, tragenden Teile des Baues, Stufen, Säulen und Cellawände, blieben naturfarben hell; sie dürften in der Antike annähernd so ausgesehen haben wie die Ruinen, die wir heute noch besuchen. Die oberen, getragenen Bauglieder dagegen wurden bunt bemalt, und auf dem Dach, das mit Ton- oder Marmorziegeln gedeckt war, erhoben sich künstlerische Gestaltungen geometrischer, pflanzlicher oder figür-licher Art in den Himmel.

Der griechische Tempel wirkt auf den Betrachter schön und harmonisch. Empfind-same Menschen haben ihn sogar als leise atmend, wie lebendig beschrieben. Mit welchen architektonischen Mitteln ist es den alten Baumeistern gelungen, solche Eindrücke hervorzurufen?

     Da ist als erstes das Gleichgewicht zu nennen, das zwischen sämtlichen Bestand-teilen des Baues hergestellt wurde. Sorgfältig sind die massiv gemauerte, fensterlose Cella und der sie locker umspielen de Säulenkranz gegeneinander ausgewogen. Ebenso die tragenden und die lastenden Bauglieder. Kein Teil dominiert auf Kosten der anderen, alle fügen sich dem Ganzen.

     Die tragenden Säulen sind in Griechenland immer mit Längsrillen (Kanneluren) verziert, welche die Senkrechte betonen und die Schwere vermindern. Die Säulen-durchmesser schwellen im unteren Drittel etwas an (Entasis) und verjüngen sich nach oben. Die Rillen machen die Bewegung mit. Durch diese Spannung erwecken die Säulen den Eindruck, als stemmten sie sich elastisch gegen den Druck des auf ihnen lasten den Gebälks.

     Überhaupt gibt es am griechischen Tempel keine ganz geraden Linien. Der Stufenunterbau ist nach der Mitte hin leicht gewölbt. Seiner Schwingung folgen sämtliche waagrechten Linien, d. h. sie liegen in  der Mitte einige Zentimeter höher als an den Ecken. «Diese Krümmungen erfüllen die Flächen und Linien des Baues mit ei nem alles durchströmenden Atem; sie nehmen ihm nicht nur die das Auge ermüdende Starrheit, sondern stellen in ihrem An- und Abschwellen jedes einzelne Bauglied und jeden einzelnen Stein in einen Bezug auf das Ganze und durchpulsen den Teil.»

     Damit alle Bauglieder sich in das durchgängig leicht gekrümmte Ganze einfügten, musste jeder einzelne Baustein etwas anders gestaltet werden; Massenherstellung war nicht möglich.

     Das rechte Mass, das nach Ansicht der Griechen den Menschen über den wilden Zustand erhebt und erst eigentlich zum Menschen macht, sollte auch den Tempel harmonisieren, zu Schönheit und Wohlklang bringen. Jeder Tempel erhielt die Masse, welche dem Gotte entsprachen, dem er geweiht war. Jedem Gott gehörten andere Verhältnisse von Länge zu Breite usw. zu. Die Masse der Tempel  sollen aus den Proportionen des menschlichen Leibes abgeleitet worden sein. Leider ist der Kanon Polyklets, das Buch, in dem die Verhältnisse und Symmetrien am mensch lichen Körper ausführlich dargelegt waren, heute verloren.

     Jedes Bauglied bis hin zum einzelnen Stein wurde nach dem Grund mass durchproportioniert – das Ganze sollte auch im Teil erscheinen. Lauter gleich grosse Steinblöcke wurden in immer gleicher, übereinandergreifender Weise vermauert. Der Gefahr, dass der Bau so zu einem leblosen Schema erstarrte, konnte man ausweichen. «Es scheint …. dass die Erbauer absichtlich versuchten, das mathematisch Korrekte durch leichte Abweichungen von den ‹wahren› Massen zu mildern, wobei sie dieses Ideal so weit trieben, dass sie keine gerade Linie gerade noch irgendeinen Abstand gleichmässig liessen. … Die leichten Abweichungen von perfekter Regelmässigkeit und Symmetrie sind … hinzugefügt, um der strengen mathematischen Korrektheit, der allgemeinen Norm, Leben zu verleihen. … Die Form lebt nur, wenn sie im Stoff unregelmässig gemacht wird. In der Architektur sind die Formen Menschenwerk, aber wenn sie mit mathematischer Genauigkeit harmonisiert und dann in ihrer stofflichen Darstellung unregelmässig gemacht werden, werden sie einen Zustand erreichen, der dem eines lebendigen Naturwesens gleich ist.»

     Die Sonne lässt den Tempel im Tages- und Jahreslauf in immer anderem Licht erscheinen. Mit seinen Schatten werfenden Leisten und den Kanneluren der Säulen zeigt er den Gang der Sonne an, sein Aussehen verändernd.

     Sanft schwingend durch die Krümmungen, leicht gespannt durch die Schwellungen, in sich ruhend durch Stufen und Cella, offen zur Welt durch den Säulenkranz, steht der Tempel an charakteristischer Stelle in der Landschaft des Gottes, auf den er aufmerksam machen soll. Wer ihn betritt, blickt unwillkürlich hinaus in die Umgebung. Natur und Tempel ergänzen sich gegenseitig. 

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